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Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman

Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman

Titel: Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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aufbrausendes Wesen, und sie konnte nicht verhehlen, welches Temperament ihr in die Wiege gelegt war. War sie anfangs noch zutiefst verstört und meist sehr still gewesen, so hatte sie doch nach einer Weile mit dem Empfinden wachsender Geborgenheit auch gewagt, hin und wieder eine patzige Erwiderung zu geben oder bockig die Unterlippe vorzuschieben, wenn ihr etwas nicht passte. Trotz und Rebellion gingen bei ihr aber stets einher mit einem besonderen Bewusstsein für Loyalität; nie lehnte sie ein Ansinnen ab, weil es ihr lästig schien oder mit zu viel Arbeit verbunden war, sondern höchstens dann, wenn es ihr Gespür für Gerechtigkeit verletzte. Oder, was auch vorkommen konnte, weil sie es schlicht nutzlos fand, wie etwa die häufige Ermahnung Mansuettas, eine Haube zu tragen.
    Am frühen Morgen, bevor sie aufgebrochen waren, hatte Crestina Brot und Käse eingepackt. Beides wickelte sie nun aus dem Tuch, in das sie es eingeschlagen hatte, und reichte eine Portion davon an Laura weiter, die, ohne zu zögern, ihre Zähne in das Brot grub.
    »Der Herr segne dieses Mahl«, sagte Crestina. »Wir danken dir für diese deine Gabe, o Herr!«
    Mit vollem Mund hörte Laura auf zu kauen und starrte sie schuldbewusst an. »Amen«, erwiderte sie undeutlich. Sie senkte die Blicke und schlug hastig das Kreuzzeichen, nur um dann sofort, wenn auch etwas sittsamer, weiterzuessen. Im Nu hatte sie alles vertilgt und spähte, offenbar immer noch hungrig, auf das zusammengelegte Tuch, das Crestina auf dem Schoß hielt. Doch sie sagte nichts, und es war klar, dass sie sich wegen ihrer Gier schämte.
    »Hier, es ist noch da« sagte Crestina rasch, während sie Laura ein weiteres Stück Käse und eine Scheibe Brot reichte. Auch der Ruderführer, der beim Mast saß, erhielt seinen Anteil. Der Wind fegte über das Meer und blähte das Segel, und die tiefer sinkende Sonne spiegelte sich rötlich in den Wellen. Die Luft schmeckte salzig und süß zugleich, so wie das Wasser, das Venedigs Inselreich umspülte.
    Genüsslich aßen sie zu dritt ihren Reiseproviant, bis nichts mehr übrig war. Crestina zweifelte nicht daran, dass Laura noch mehr hätte essen können, wenn man es ihr angeboten hätte. Manchmal war es schier unglaublich, was dieses Kind verschlingen konnte.
    Crestina hatte selbst hin und wieder erlebt, was es bedeutete, Hunger zu leiden, auch wenn es selten vorgekommen war. Venedig war eine wohlhabende Stadt, in der die meisten Bürger ausreichend Nahrung hatten; sogar die armen Leute mussten selten richtig hungern. Crestina wusste sehr wohl, dass sie den Vorzug genoss, in einer Stadt voller Überfluss zu leben. Außerhalb der Lagune gab es in Italien und auch im übrigen Europa vielerorts Landstriche, in denen der Hunger wütete, sei es, weil Seuchen wie die Pest und die Pocken grassierten und nicht mehr genug Menschen die Felder bestellen und das Vieh versorgen konnten, sei es, weil marodierende Söldnertruppen oder gedungene Räuberbanden in Fehde liegender Feudalherrscher das Land verheerten.
    Venedig galt im Vergleich dazu vielen als eine Insel der Seligen. Von den fruchtbaren Ländereien auf der Terraferma und den Adriatischen Inseln wurde die Lagunenstadt täglich mit allem beliefert, was das Herz begehrte. Es gab Fleisch und frisches Obst sowie Gemüse im Überfluss. Die venezianischen Bäckereien buken aus dem Mehl vom Festland tagaus, tagein ihr frisches Brot, von dem die Bevölkerung satt wurde. Die Bauern brachten Eier, Käse, Würste, Schinken und Geflügel auf die Märkte, und vor allem Fisch wurde ständig in großen Mengen an den Kais der Lagune angelandet.
    Doch in diesem Jahr hatte in Venedig Getreideknappheit geherrscht. Nicht immer hatte es frisches Brot gegeben, und Crestina wusste, wie sehr Laura darunter litt, Nahrung zu entbehren. Es hing nicht nur damit zusammen, dass sie zuweilen das Gefühl unzureichender Sättigung ertragen musste, sondern auch mit ihrer Zeit im Waisenhaus, in der man sie absichtlich knapp gehalten hatte. Doch das war Vergangenheit; nur schien es für Laura immer noch schwer zu sein, es zu begreifen.
    Sie erreichten die Lagunenstadt über die Hafeneinfahrt von Cannaregio. Der Bootsführer holte das Segel ein und ruderte den Sàndolo durch den Verbindungskanal zum Canal Grande und von da bis zur Rialtobrücke, wo sie die Körbe auf einen der Lastkarren luden, die dort zu mieten waren. Der Inhaber des klapprigen Gefährts zog es mit schierer Körperkraft über das holprige Pflaster und

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