Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
vom Tablett und fielen zu Boden. Rasch breitete sich der Geruch nach schwerem Würzwein aus.
Antonio achtete nicht auf den angerichteten Schaden. Mit einer scharfen Verwünschung auf den Lippen setzte er über die Weinpfütze und die leeren Becher hinweg und erreichte die Treppe. Auf seinem Weg nach unten nahm er immer drei oder vier Stufen auf einmal. Dennoch kam er zu spät. Laura hatte recht behalten, in dieser Nacht würde er niemanden mehr töten. Als er den Hof erreichte, waren nur noch die Stallknechte zu sehen, die dabei waren, das Tor zu schließen. In der Ferne verklang das Rollen von Wagenrädern.
April 1510
»Der Junge macht mich ratlos«, sagte Piero Fioravante. Der Hauslehrer streckte die Hand aus und deutete theatralisch auf Matteo, der mit frustrierter Miene neben ihm stand und auf seine Zòccoli schaute. »Ich weiß nicht, was ich noch mit ihm machen soll!«
Mansuetta betrachtete ihren kleinen Bruder argwöhnisch. »Was hat er schon wieder angestellt, Messèr Fioravante? Ist er an einer Säule hochgeklettert? Von einer Mauer gefallen?«
»Wenn es nur das wäre«, meinte der Hauslehrer in klagendem Tonfall. Der junge Mann raufte sich die Haare, bis sie in alle Richtungen abstanden, was ihm eine liebenswerte Ähnlichkeit mit seinem Schützling verlieh, dessen rotblonder Haarschopf auch immer kurz nach dem Bürsten schon wieder unordentlich war. Piero legte Matteo die Hand auf die Schulter. »Matteo, berichte deiner Schwester, was du ausgeheckt hast.«
»Und gib dir keine Mühe, Ausreden zu erfinden«, setzte Mansuetta in strengem Ton hinzu. Sie verkniff sich ein Lächeln, als sie sah, wie Matteo die Unterlippe vorschob.
»Ich habe nichts angestellt«, behauptete er. »Jedenfalls nichts von dem, was du mir sonst immer verbietest.«
Offenbar hatte er nicht vor, mehr zu sagen. Mansuetta wurde bei seinem Anblick das Herz weit. Wie sehr er doch von seinem Wesen her Laura ähnelte! Er war nicht so aufbrausend wie Laura, auch trug er das Herz nicht so sehr auf der Zunge wie sie. Aber sein Dickkopf konnte sich jederzeit mit dem ihren messen. Je älter er wurde, umso mehr schien er darauf erpicht, Anweisungen jeder Art infrage zu stellen. Vor allem wenn es darum ging, Fragen zu klären, an denen ihm lag, war er keinesfalls bereit, vorschnell klein beizugeben. Es handelte sich dabei meist um solche Fragen, die den Wissenshorizont der meisten Menschen sprengten, die mit ihm zu tun hatten. Sogar Piero war in manchen Belangen bereits an seine Grenzen gestoßen.
»Was hast du getan, mein Kleiner?«, fragte Mansuetta.
»Ich bin nicht klein«, erklärte er sofort.
»Betrachte die Bezeichnung als zärtliche Anrede«, empfahl Piero ihm.
Matteo schaute zweifelnd zu seinem Hauslehrer auf, zuckte dann aber die Achseln.
»Was hat er denn nun gemacht?«, wollte Mansuetta wissen.
»Er hat sich unmögliche Zahlen ausgedacht!«
Verblüfft erwiderte Mansuetta den indignierten Blick des Hauslehrers. »Unmögliche Zahlen?«
»Negative Zahlen«, sagte Matteo. »Sie sind nicht unmöglich!«
»Sie sind unmöglich, denn sie sind nicht real«, wandte Piero ein. »Sie sind ... absurd!«
»Man kann damit rechnen«, versetzte Matteo eigensinnig.
»Hm«, meinte Mansuetta. Mehr fiel ihr dazu nicht ein. Die Welt der Mathematik war ihr weitgehend verschlossen geblieben. Isacco hatte ihr die wichtigen Grundzüge des Rechnens beigebracht, sie beherrschte das kleine Einmaleins und konnte im Kopf Zahlen im dreistelligen Bereich addieren und subtrahieren. Mehr brauchte sie nicht zum Haushalten, und es wollte ihr oft nicht einleuchten, wozu die anderen Bereiche der Mathematik gut sein sollten.
Matteo hatte ihr erklärt, dass die höhere Mathematik unter anderem dazu diente, komplizierte Flächenberechnungen anzustellen oder Inhalt, Umfang und Durchmesser von Körpern zu ermitteln, sowie die Verhältnisse, die zwischen ihnen herrschten, sei es nun bezüglich Größe, Gewicht oder Entfernung. »Wie soll man sonst Häuser, Schiffe und Brücken bauen, die nicht gleich zusammenbrechen?«, hatte er berechtigterweise hinzugefügt.
Mansuetta hatte begriffen, dass das wohl stimmen musste. Ähnliche Prinzipien galten schließlich für die Herstellung von Arzneien, hier kam es mitunter auf höchste Messgenauigkeit an, ebenso wie auf das exakte Verhältnis der Stoffe untereinander.
»Was macht man mit negativen Zahlen?«, wollte sie wissen. Plötzlich interessierte es sie. Wann immer sich Matteo mit etwas bisher Unbekanntem
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