Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
und suchte nach den richtigen Worten. »Als ich ein Kind war, erzählte mein Vater mir oft Geschichten von fremden Ländern. Sie waren sämtlich seiner Fantasie entsprungen, aber das wusste ich natürlich nicht. Ich hielt sie für wahr. Ich glaubte an all die Fabelwesen, die er mir in den prächtigsten Farben schilderte. Ich war der felsenfesten Überzeugung, dass es irgendwo hinter dem Horizont sagenumwobene Länder gab, in denen die herrlichen bunten Tiere existierten, mit denen er unsere Wände und die Häuser anderer Leute bemalte.« Sie schluckte, weil die Erinnerung immer noch wehtat. Sie sah ihren Vater vor sich, wie er sie voller Zuneigung anlächelte, mit diesem Strahlen in den Augen, das er nie verloren hatte, trotz der Müdigkeit und der Anstrengung, die manchmal seine Züge beherrschten. Sie rief sich ins Gedächtnis, wie er mit dem Spachtel die Farben auftrug und sie vorsichtig verwischte, hier eine Kontur schärfer zeichnete, dort eine Fläche mit leuchtender Farbe füllte. Karmesinrot, Lapislazuliblau, Bernsteingelb, Smaragdgrün – aus der schimmernden Vielfalt immer neuer Variationen hatte er seine Kraft geschöpft und damit seine Fantasien zum Leben erweckt. Und die eines kleinen Mädchens.
»Es gab eine Geschichte, die mir ganz besonders gut gefiel«, erzählte Laura. »Manchmal gingen wir auf den Markusplatz. Da trank er ein Glas Wein, und ich bekam einen Zuckerkringel. Wir standen zusammen und genossen es, dort zu sein, unter all den Menschen, um uns herum die prachtvollen Fassaden und das glitzernde Meer. Wir schlenderten durch den Bogengang des Uhrturms über die Merceria, oder wir gingen zur Mole und betrachteten die Schiffe. Wenn wir da standen, zwischen den Säulen auf der Piazzetta, blickte ich besonders gern zum Markuslöwen hinauf. Ich habe mich auf eine unbestimmte Art vor ihm gefürchtet, aber er hatte auch etwas an sich, was mich magisch anzog. Mein Vater hatte das wohl bemerkt, und so hatte er sich eine Geschichte ausgedacht, die mich jedes Mal besonders faszinierte. Es ging um ein kleines Mädchen, das allein aufwächst, ohne Eltern und ohne den Schutz von Menschen, die sich um es kümmern. Es musste hungern und betteln, um sich über die Runden zu bringen, und im Winter war es so bitterkalt, dass es in mancher Nacht fast erfroren wäre.«
Sie hielt inne, weil ihr mit einem Mal bewusst wurde, dass sich nach dem Tod ihrer Eltern ihr Leben auf ebendiese Weise gestaltet hatte, wie ihr Vater es in seiner Geschichte dargestellt hatte.
Antonio drückte aufmunternd ihre Schultern. »Was geschah mit diesem kleinen Mädchen?«
»Es kletterte gern und sprang häufig herum, und eines Tages kam es auf die Piazzetta. Dort sah es den Löwen auf der Säule thronen, und es merkte sofort, dass er ein magisches Geheimnis barg. Alle anderen Leute konnten das nicht erkennen, nur das kleine Mädchen. Und so wartete es eines Nachts, bis alle Leute heimgegangen waren, und dann kletterte es die Säule hinauf, weil es den Löwen aus der Nähe sehen wollte. Zum großen Schrecken des Mädchens begann der Löwe plötzlich zu sprechen. Es nannte das Mädchen beim Namen ...«
»Wie hieß es denn?«, erkundigte Antonio sich. »Etwa Laura?«
Sie lächelte. »Wie hast du das erraten?«
»Instinkt«, antwortete er scherzhaft.
»Na ja, wie man’s nimmt. Damals fand ich es höchst aufregend. Also, der Löwe sprach zu dem Mädchen. ›Laura, ich habe bereits die ganze Zeit darauf gewartet, dass du zu mir heraufsteigst, denn dadurch konntest du mich zum Leben erwecken. Ich wollte schon immer mit dir reden. Ich habe dich beobachtet, seit du klein warst. Willst du mit mir auf eine Reise gehen?‹ Das Mädchen zögerte einen Augenblick, weil es sich fürchtete, doch dann erkannte es in den Augen des Löwen seine Güte. ›Ja‹, sagte es. ›Ich will mit dir auf eine Reise gehen.‹ Daraufhin begann der Löwe die ausgebreiteten Schwingen zu bewegen, und das Mädchen erkannte, dass der Löwe sich in ein richtiges Lebewesen verwandelt hatte, ein Fabeltier aus Fleisch und Blut. Sein Fell war golden, und die Federn an seinen Schwingen leuchteten wie Perlmutt. ›Steig auf‹, sagte der Löwe. ›Und halt dich gut fest.‹ Das Mädchen tat, wie ihm geheißen, und gleich darauf begann der Löwe, die Schwingen auf und nieder zu bewegen. Das Mädchen spürte den Luftzug und klammerte sich mit beiden Händen in der Mähne des Löwen fest. Der Löwe tat einen gewaltigen Satz, und das Mädchen fürchtete für einen Moment,
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