Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
sie würden hinabstürzen und auf dem Pflaster der Piazzetta zerschmettern, doch schon stieg der Löwe mit rauschenden Schwingen in die Lüfte auf. Die leere Säule blieb unter ihnen zurück. Wie ein riesenhafter Vogel flog er höher und höher, bis die Gebäude wie kleine Schachteln aussahen. Der Campanile war kaum größer als ein Finger, und der Dogenpalast erschien im Licht des Mondes nur noch wie ein eckiges Kästchen. Die runden Kuppeln der Basilika wurden zu goldenen Knöpfen, und der große Platz schrumpfte auf die Ausdehnung einer Handfläche. Die Lagune tief unter ihnen verwandelte sich in einen Tümpel, der immer kleiner wurde. Und so entfernte der Löwe sich auf seinem Flug weiter und weiter, bis die Stadt vollständig verschwunden war.«
Laura verstummte.
»Und was kam dann?«, wollte Antonio wissen.
»Viele fremde Länder«, fasste Laura die Erzählungen ihres Vaters zusammen. »Sie zu beschreiben dauerte manchmal länger als eine Stunde. Eines war farbenfroher als das andere. Überall gab es reichlich zu essen, und nirgends war es kalt. Das kleine Mädchen fand viele Freunde, lauter Menschen, die auf es Acht gaben und ihm wohlgesonnen waren. Später kam natürlich noch ein Prinz hinzu, der es heiratete und mit in seinen Palast nahm.«
»Natürlich«, wiederholte Antonio trocken. »Eine schöne Geschichte. Was gefiel dir am besten daran? Die Stelle mit dem Prinzen?«
Laura schüttelte den Kopf. »Mit Männern hatte ich damals nichts im Sinn. Am schönsten und spannendsten fand ich den Aufbruch. Das Klettern, das Besteigen der Säule. Wie der Löwe auf einmal anfing zu sprechen, und dann der plötzliche Absprung und das Hochsteigen in die Lüfte. Immer wenn mein Vater diesen Teil erzählte, schlug mein Herz schneller. Ich stellte mir vor, wie es sich anfühlen musste, hoch in den Himmel zu fliegen. Alles von oben zu sehen, ganz winzig. Wie auf dieser Vogelschaukarte von de’Barbari, von der du letzten Winter einen Abdruck mitgebracht hast.« Sie streichelte seine Hände. »Um auf deine anfängliche Frage zurückzukommen, ob das Hinausfahren in die Welt wichtig für mich war: Ja, das war es. Sogar sehr wichtig, eines der wichtigsten Dinge in meinem Leben. Für mich war es die einzige Möglichkeit, die Frage zu lösen, die nach der Geschichte meines Vaters stets unbeantwortet in mir zurückgeblieben war. Eine Frage, die mich seither bedrängt und gequält hat.«
»Die Frage, ob es woanders besser und schöner ist?«
Laura nickte.
»Und wie lautet die Antwort?«
»Nichts kann je der Serenissima gleichkommen«, sagte Laura schlicht. »Nicht das Hinaussegeln und das Entdecken unbekannter Länder ist das Besondere an einer Fahrt in die Fremde, sondern das Zurückkommen. Die Küsten der Lagune im Meer auftauchen zu sehen, und dann die Türme und Kuppeln von San Marco ...« Sie blickte zum Horizont, als könne sie all das schon sehen. »Auf den Schwingen des Markuslöwen zu reisen – das bedeutet für mich Heimkehr nach Venedig.«
Für eine kurze Weile lauschten sie beide diesen Worten nach.
Laura drehte den Kopf, um zu Antonio aufschauen zu können. Er war am Vortag in Lissabon bei einem Barbier gewesen und hatte sich rasieren lassen, doch inzwischen hatte sich wieder ein dunkler Bartschatten auf seinen Wangen und seinem Kinn gebildet. Sie reckte sich auf die Zehenspitzen und presste ihre Lippen auf sein stoppeliges Kinn, und Antonio zögerte nicht, mehr aus dieser Liebkosung zu machen. Er neigte den Kopf und küsste sie voller Verlangen.
Ein heftiger Windstoß fuhr unter den Umhang und riss ihn zur Seite. Antonio packte den geblähten Stoff und bändigte ihn mit beiden Händen, während Laura ihre ebenfalls ins Flattern geratene Haube festhielt, unter der sich das Haar selbstständig machte. Locken schlüpften heraus und bauschten sich in der nächsten Bö, und während Laura noch versuchte, das Haar zurückzuschieben, riss der Wind ihr die Haube vom Kopf. Antonio streckte die Hand aus und haschte danach, doch schon im nächsten Augenblick war das bebänderte Stoffstück über die Reling davongeflogen, ein wehender weißer Fleck vor dem stumpfgrauen Meer.
Er lachte. »Lass uns reingehen. Hier wird es zu stürmisch.«
»Nein!« Laura schrie gegen das plötzliche Tosen des Windes an. »Ich will es spüren! Genau das ist es, was ich meinte, verstehst du? Der Wind bringt uns ans Ziel! Es ist wie ein Flug auf den Schwingen des Löwen! Wir fahren nach Hause!«
Das Haar peitschte wie ein rotes
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