Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
gewesen.
Laura grübelte, ob sie womöglich ihrem wirklichen Vater glich. Die wenigen Male, die sie Marcello Querini bisher gesehen hatte, war er ihr nicht vertraut erschienen. Sein Gesicht war herrisch, aber auf unbestreitbare Weise attraktiv. Seine hellen Augen ... Zuane hatte diese Augen, und manchmal, wenn er sie angesehen hatte, war etwas in ihr angerührt worden.
Herr im Himmel, er war ihr Bruder! Laura wusste immer noch nicht, ob sie deswegen lachen oder weinen sollte. Eines jedoch war sicher: Was immer das Schicksal noch für sie bereithalten mochte – niemand würde ihr nun verwehren können, ihn wiederzusehen. Natürlich würde sie ihm verschweigen, was sie inzwischen wusste, nachdem Antonio, unter dem Eindruck von Mansuettas Neuigkeiten, ebenfalls mit seinen Erkenntnissen herausgerückt war. Laura kümmerte es nicht, dass Zuane einer inzestuösen Begegnung entstammte, ihrer Zuneigung zu ihm tat es keinen Abbruch.
Zuanes Mutter, die zugleich auch seine Tante war, mochte selbstsüchtig, eitel und intrigant sein, sein Vater kalt, berechnend und skrupellos – Zuane war von seinem Wesen her völlig anders. Er war ein wunderbarer Mensch, liebevoll, fröhlich und gutherzig. Er war genau der große Bruder, den Laura sich immer gewünscht hatte. In der ganzen verfahrenen Situation, die hier seit dem Vortag herrschte, war das die einzige wirklich gute Neuigkeit. Und natürlich die ebenso erstaunliche wie wundervolle Tatsache, dass Mansuetta sich verheiratet hatte. Laura konnte es immer noch nicht fassen, und sie hatte nicht mit Vorwürfen gespart, weil Mansuetta sich nicht früher offenbart hatte.
Durch das offene Fenster an der Rückseite des Palazzo war ein Poltern zu hören. Laura eilte hin, um hinauszuspähen. Sie zuckte zusammen, als sie sah, dass die Leichensammler gekommen waren. Unten in der Gasse stand ein Karren, auf dem sich bereits die Toten stapelten. Laura widerstand nur mühsam dem Impuls, in die Mitte des Saals zurückzuweichen, um dem schaurigen Anblick zu entfliehen. Mit beiden Händen die Brüstung umklammernd, blieb sie stehen und schaute hinaus. Die Leichen auf dem Karren lagen kreuz und quer übereinander, hier ein Kopf zwischen den Beinen eines anderen, dort eine Frau auf einem Mann, die schlaffen Gliedmaßen auf obszön anmutende Weise miteinander verschlungen. Ganz zuoberst lag ein Kleinkind, den Mund weit aufgerissen, als sei es mitten in einem Klageschrei gestorben.
Laura zitterte und legte beide Hände auf ihren gewölbten Leib. Sie spürte die Bewegungen ihres eigenen Kindes, teils sanfte, teils schon recht kräftige Tritte. Die Hebamme hatte bei ihrer Untersuchung gesagt, dass alles seine Richtigkeit habe. Das Kind gedieh gut, und sie selbst war gesund.
Gesund! Laura unterdrückte ein hysterisches Lachen, während sie wieder nach draußen schaute. Wie lange sie inmitten dieser Pesthölle gesund bleiben würde, wusste nur der Allmächtige. Sie hielt sich von allen Erkrankten fern, doch damit war ihr nicht geholfen, wenn Antonio sich irgendwo ansteckte. Er war seit dem frühen Morgen fort, um im Hafen eine Schiffsreise zu organisieren. Egal wohin, hatte er gesagt, nur fort!
Bis morgen würden sie wissen, ob sie sich angesteckt hatten. Spätestens übermorgen wollten sie aufbrechen. Mittlerweile war davon auszugehen, dass es eine Epidemie größeren Ausmaßes werden würde, jedenfalls hatte Simon sich am Vorabend so geäußert. Er meinte, dass sie gut daran täten, die Stadt zu verlassen.
Überall spielten sich apokalyptische Szenen ab. Die Toten wurden zu Dutzenden durch die Gassen gekarrt und auf Booten abtransportiert. Weinende Hinterbliebene saßen zusammengekauert an den Wänden ihrer Häuser, um die Ankunft des nächsten Leichenwagens abzuwarten. Pestdoktoren gingen mit brennenden Kräuterschalen in die Krankenzimmer, um die tödlichen Dünste zu bekämpfen, und überall sanken Menschen in die Knie, um zu Sankt Rochus zu beten. Die Augusthitze lag wie eine gewaltige Glocke über der Stadt; die Luft sammelte sich in stinkenden Schwaden in den Gassen und Kanälen, als wolle der Sommer neben dem allgegenwärtigen Tod das seine dazutun, die Menschen zu lähmen und einzukesseln.
Erneut war von draußen ein Rumoren zu hören. Die Leichensammler, zwei Männer in schmutzstarrender Kleidung, kamen die Außentreppe herunter, ein zusammengerolltes Tuch mit einem menschlichen Körper zwischen sich. Ihre Last war schwer; sie zerrten den Toten über die Stufen nach unten. Nach
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