Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
darunter nur einen plumpen Holztisch zu entdecken. Sie warf sich das Tuch um die Schultern. Es roch ein wenig muffig, aber um das zerschnittene Oberteil ihres Kleides zu bedecken, taugte es allemal. »Nehmt Matteo und mich ein Stück mit, bis zur nächsten Kirche. Ich werde dort warten und beten.«
Valeria öffnete die Augen, als sie merkte, dass ein Schatten über das Bett fiel. Zuerst dachte sie, ein Traumbild zu sehen, doch er war tatsächlich hier. Cattaneo stand neben dem Bett und blickte auf sie herab. In seinen Augen standen Trauer und Bestürzung.
»Mein armes Mädchen«, sagte er.
»Giacomo«, flüsterte sie. »Was tust du hier?«
»Dich endlich besuchen, was dachtest du denn?«
»Die Diener ...«
»Alle weg. Sie haben Angst vor der Pest.«
»Und du nicht?«
»Ich hatte sie doch schon, meine Kleine.« Er strich ihr vorsichtig das Haar aus der Stirn. »Meine Güte, was ist mit dir passiert? Du siehst schrecklich aus!«
Sie gab keine Antwort, sondern schaute ihn nur unverwandt an, als könne sie, wenn sie ihn nur scharf genug fixierte, seine Absichten ergründen. Es war nicht weiter schwierig. Sie hätte schon früher genauer hinsehen sollen. Aber vielleicht war es früher auch noch nicht in dieser Deutlichkeit zu sehen gewesen. In seinen Augen stand Wahnsinn.
Benommen überlegte sie, wie es wohl hatte geschehen können, dass sie damals Zuneigung zu ihm gefasst hatte. Mehr noch, sie hatte ihn geliebt. Ob es daran gelegen hatte, dass er der erste Mann gewesen war, der sie gesehen hatte, wie sie wirklich war? Der ihre versteckte Sehnsucht nach Liebe hinter dem zwanghaften Bedürfnis nach materieller Sicherheit erkannt hatte? Er hatte ihr beides gegeben, Liebe und Geld. Das Geld war real gewesen, in Form von Schmuck, kostbaren Kleidern, Dienerschaft und köstlichen Speisen. An die Liebe hatte sie glauben wollen, weil auch sie manchmal real gewesen war, zumindest hin und wieder, vor allem nach jenen dunklen Stunden orgiastischer, verdorbener Leidenschaft. Wenn er sie in die Arme genommen hatte, in seinem Bett, wo sie sich zuvor nicht nur ihm, sondern auch anderen Männern hingegeben hatte, Carlo eingeschlossen. Dann hatte er sie an seine Brust gezogen und ihr mit tränenerstickter Stimme zugeflüstert, dass er ohne sie verloren wäre. Und er hatte die Wahrheit gesagt, deshalb hatte sie ihn geliebt.
Seine schwärzesten Untaten hatte sie damals noch nicht gekannt. Sie hatte nicht gewusst, dass er einem berüchtigten Franzosen nacheiferte, einem verdienten Heerführer namens Gilles de Rais, ein Kampfgefährte der berühmten Jeanne d’Arc, der siebzig Jahre zuvor wegen Massenmords hingerichtet worden war. Dieser Mann hatte unter dem Deckmantel seiner respektablen Stellung lange Zeit im Verborgenen einem grausigen Laster gefrönt. Er hatte zu seinem Vergnügen in satanischen Messen Kinder getötet. Hunderte, wie es hieß. Und Cattaneo sollte, wenn auch in kleinerem Maßstab, Ähnliches getan haben. Antonio hatte ihr davon erzählt, und später hatte auch Carlo einen entsprechenden Verdacht geäußert.
Warum dann sie selbst noch lebten, hatte sie ihn gefragt.
Weil wir anders sind, hatte Carlo gesagt. Wir sind stärker.
Aber waren sie das wirklich? Wie kam es dann, dass ihr Herz immer noch raste, wenn Giacomo hier neben ihr stand und auf sie herabblickte, mit seinen wissenden Augen? Übte er seinen unheilvollen Einfluss immer noch auf sie aus, oder lag es vielleicht an ihrer Krankheit?
»Du hast ein Kind«, sagte er mit Blick auf die Wiege. »Geht es dir deswegen so schlecht?«
Sie blieb erneut die Antwort schuldig. Er würde ohnehin das tun, was er für richtig hielt, ob es ihr nun zum Schaden oder zum Nutzen gereichte.
»Ich nehme dich mit«, sagte er sanft. »An einen Ort, wo du Frieden finden wirst.« Er schaute zu der Wiege. »Und dein Kind auch.«
»Du meinst einen Ort, an dem du uns töten wirst.«
»So harte Worte«, schalt er sie. »Traust du mir denn nicht?«
Ihre Stimme war schwach, aber klar. »Ich wäre verrückt, wenn ich es täte.«
Er schlenderte zu der Wiege und schaute hinein. »Querini ist bestimmt überglücklich, dass er seinen Lenden nach all den Jahren noch einen ehelichen Spross abringen konnte.«
»Verschwinde besser, Giacomo. Marcello kam heute zurück und ist hier, im Haus. Es kann nicht lange dauern, bis er dich hört!«
»Oh, ich weiß, dass er seit heute wieder hier ist, mein Liebes. Nur kann er leider nicht aufstehen, weil er die Pest hat. Aber das weißt du
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