Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
Äußeres bereits jetzt im Alter von knapp sieben Monaten. Es schien fast so, als hätte er in dieser kurzen Zeit seines Lebens weit mehr von seiner kindlichen Art verloren, als es für Säuglinge im ersten Lebensjahr sonst üblich war. Sein Schädel war rund, doch das Gesichtchen schmal und länglich, und die Stirn wirkte weit markanter als bei anderen Kleinkindern, ein Eindruck, der noch dadurch verstärkt wurde, dass mehrere Wirbel sein Haar in die Höhe stehen ließen wie büscheligen Kükenflaum.
Er lachte und freute sich, wenn er seiner Schwester ansichtig wurde, aber sie hatte immer wieder den Eindruck, dass das kleine Gesicht ernster war, als es zu einem so kleinen Kind passte. Manchmal, wenn ihm Lodovica ein Spielzeug in die Hand drückte, starrte er es beinahe grüblerisch an, drehte und wendete es nach allen Seiten, bevor er es schließlich wie erwartet – und wie für alle kleinen Kinder normal – in den Mund steckte und ablutschte.
Ernst wirkte seine Miene auch, wenn er auf Entdeckungsreisen ging. Setzte man ihn auf den Fußboden, ging er sogleich auf Knie und Hände, krabbelte wie ein eifriger Käfer durch das Zimmer und hielt dabei zielstrebig auf den Gegenstand zu, der ihm am vielversprechendsten für eine Untersuchung erschien. Das mochte ein Zipfel seines Lakens sein, der aus dem Bettchen hing, oder einer von Lodovicas Holzschuhen, der in einer Ecke lag. Matteo konnte minutenlang das Ziel seines Interesses betrachten und betasten und dabei derart gebannt dreinschauen, dass Laura ihn häufig staunend beobachtete und sich fragte, wie lange er wohl seine Aufmerksamkeit auf diese eine Sache richten konnte. Unterdessen wurde jedoch Lodovica meist nervös und lenkte den Kleinen ab; ihr erschien seine Art, sich mit seiner Umgebung zu beschäftigen, eher fremdartig, denn sie gab sich redlich Mühe, ihn mit albernen Spielchen auf Trab zu halten, etwa, indem sie Kleinkindlaute ausstieß und dazu vor seiner Nase Holzklötzchen aneinanderschlug, oder indem sie eines ihrer kindischen Liedchen trällerte und dazu im Takt seine Händchen zusammenpatschte. Er ließ es sich gefallen, aber sein Gesicht blieb meist ernst, und Laura meinte zuweilen, in seinen Augen einen zweifelnden Ausdruck wahrzunehmen, als sei er sich nicht klar darüber, was das Ganze eigentlich sollte.
Laura hatte sich in die Abgeschiedenheit ihrer Kammer zurückgezogen, um sich im Spiel mit Matteo abzulenken. Sie war dankbar dafür, dass Lodovica sich auf den Abort verzogen hatte, wo sie hoffentlich eine Weile bleiben würde, und sie wünschte sich inständig, die Prügel schon hinter sich zu haben.
Sie war noch nie von Arcanzola geschlagen worden, doch sie hatte häufiger mitbekommen, wie die Nonne dabei vorging. Es durfte zwar niemand zusehen, doch aus den Berichten der anderen Kinder wusste Laura, wie die Bestrafung vonstatten ging, und sie fürchtete sich weit mehr davor als vor den Hieben Monna Paulinas.
»Komm zu Laura«, sagte sie, die Arme nach ihrem Bruder ausstreckend.
Matteo saß vor ihr auf dem Boden und zog mit konzentriert gerunzelter Stirn ein Band auseinander, das zu einem von Lodovicas Gewändern gehörte. Aufmerksam hielt er es mit beiden Händen hoch, als wollte er die Länge prüfen, dann ballte er den Lederstreifen zusammen, um ihn gleich darauf wieder auseinanderzuziehen.
»Wah«, sagte er versonnen, während ihm der Speichel aus dem Mund lief. Er zahnte heftig und musste ständig auf irgendwelchen Dingen herumkauen, und als wäre es ihm just in diesem Moment wieder eingefallen, schob er sich das Lederband zwischen die Kiefer und biss sabbernd darauf herum.
»Komm zu mir, Matteo«, lockte Laura erneut.
Er blickte sie an und grinste breit, das Mündchen von braunem Ledersaft verschmiert. In seinem schäbigen Wämslein und den zerfledderten Hosen über der unförmigen Windel sah er aus wie das Kind eines Bettlers, doch Laura richtete ihre Aufmerksamkeit nur auf seine abstehende blonde Haartolle und das wasserklare Blau seiner großen Augen.
Das Herz schmerzte ihr vor lauter Liebe zu ihm, und als wäre jeder Moment kostbar, der ihr bis zu ihrer Bestrafung noch blieb, kroch sie über den Boden zu ihm hin, nahm ihm den Lederstreifen weg und zog ihn in ihre Arme. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt blieb sie sitzen, das Gesicht an dem kleinen weichen Nacken vergraben und die Hände um seine unruhigen Fäustchen gelegt.
»Matteo, ich bin froh, dass ich dich habe«, flüsterte sie. »Ich habe Angst, aber ich werde sie
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