Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
Mannes.
Ein Mann war er nun, daran zweifelte er nicht mehr, auch wenn er sich seinen Weg durch die Gassen und über die Kanäle suchte wie ein Tier, das seinen Jägern aus dem Weg geht. Eines Tages, das war sein Traum, würde er stolz und aufrecht durch die Stadt schreiten, für jedermann sichtbar und mit erhobenem Kopf. Alle konnten ihn ansehen, und er musste vor niemandem davonlaufen und sich niemals mehr verbergen.
In der Tasche seines Wamses steckte seit dem letzten großen Fest der weißen Muttergöttin, das sie Lichtmess nannten, ein Papier. Antonio hatte es ihm verschafft und ihm erklärt, wozu es gut war. Eine Fälschung, die ihn als freigelassenen Sklaven auswies. Carlo konnte noch nicht alle Worte verstehen und noch weniger sprechen, aber im Vergleich zum Anfang waren es sehr viele, und es wurden täglich mehr. Die Bedeutung der Worte verstand er hingegen fast immer, er musste nur genau beobachten, wie sein Gegenüber sprach und dabei schaute. Das Mienenspiel der weißen Menschen war gut zu lesen, und so fremdartig sie ihm anfangs vorgekommen waren, so durchschaubar waren sie mit der Zeit geworden. Ihm schien es manchmal sogar, als könne er in ihr Inneres sehen, mit einem verborgenen Auge, so wie auch das rothaarige Mädchen Laura es besaß. Er wusste, dass er Laura wiedersehen würde. Ihr Blick hatte es ihm gesagt.
Valeria stürzte ihn dagegen immer wieder aufs Neue in Ungewissheit. Manchmal meinte er, in ihrem Gesicht lesen zu können und endlich dem, was sie war, auf den Grund gekommen zu sein, so wie er es auch mit der Zeit geschafft hatte, sich an die steinerne, von Menschen bunt bevölkerte Welt inmitten des Wassers anzupassen und die Regeln zu begreifen, nach denen das Leben hier ablief. Doch all der Zierrat aus hellem Marmor und fließenden Straßen war nicht mit Valeria zu vergleichen, deren Wesen eine merkwürdige Mischung aus Licht und Schatten zu sein schien, von solcher Widersprüchlichkeit, dass er sie oft packen und zu sich umdrehen wollte, um besser ergründen zu können, wer sie war.
Hatte er anfangs noch darauf geachtet, sie nicht zu häufig anzuschauen – jedes Starren lenkte Aufmerksamkeit auf sich, das hatte er als Erstes in diesem Land gelernt –, blickte er sie inzwischen mit größerer Selbstverständlichkeit an, wenn sie sich abends gemeinsam in der Kammer aufhielten. Er liebte es, wenn sie ihr Haar kämmte; es schimmerte im Kerzenlicht wie reine Seide. Ihre Haut war so weiß wie Sahne, und der Duft, der von ihr ausging, umfing seine Sinne mit einer Macht, die ihm den Atem stocken ließ.
Wenn ihre Freier bei ihr waren und sie hinter der Trennwand bei ihnen lag, überfiel ihn die körperliche Lust manchmal mit solcher Gewalt, dass er hinausrannte, in die nächste dunkle Ecke, wo er sich unbeobachtet Befriedigung verschaffen konnte. Danach fühlte er sich jedes Mal schal und leer. Er dachte an den portugiesischen Sklavenhändler und den Tod seines Vaters, und er schämte sich, weil er dem Drang zu weinen kaum widerstehen konnte.
Die Leute im Haus hatten sich an ihn gewöhnt und begegneten ihm für gewöhnlich mit abgestumpfter Gleichgültigkeit, doch hin und wieder trafen ihn auch neugierige oder abschätzige Blicke. Es gab viele Schwarze in Venedig; hier lebten Menschen aller Rassen, ob als Freie oder Sklaven, Bettler oder Reiche. Das Ungewöhnliche an ihm forderte meist kaum mehr als einen zweiten Blick heraus, zumal er stets um Unauffälligkeit bemüht war. Dennoch war und blieb er ein Fremdling, auch wenn er sich weder von der Kleidung noch von seinem Benehmen her von den anderen Bewohnern des Hauses unterschied.
Hier im Haus lebte, wie er inzwischen begriffen hatte, der Abschaum der Gesellschaft. Huren, Zuhälter, Beutelschneider, Hehler, Trinker und Bettler. In manchen der erbärmlichen Kammern wohnten auch Frauen, die sich und ihre Kinder allein durchs Leben brachten, meist mit Arbeiten, die kaum mehr eintrugen als das Geld für die Miete und ein bisschen Brot.
Niemand von all diesen Menschen interessierte sich sonderlich für die seltsame Schar von Halbwüchsigen, die eine Kammer im obersten Stockwerk bevölkerten. Zu viele elternlose Kinder lebten in Venedig, manche auf der Straße, manche in Bretterverschlägen am Stadtrand, und andere, die sich besser aufs Huren und Stehlen verstanden als die Jüngeren, konnten sich zu mehreren eine Bleibe in einem stinkenden, baufälligen Haus leisten.
Carlo wusste, dass er das Gefühl von Fremdheit nie verlieren würde, aber
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