Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
er passte sich auch wesentlich schneller an, als er anfangs je für möglich gehalten hätte. Vielleicht lag es an ihr, Valeria, dass er den Menschen ähnlicher werden wollte, unter denen sie aufgewachsen war. Er wollte jemand sein, den sie wahrnahm. Ein Mann wie die anderen.
In der vergangenen Woche hatte er sich einiges an Geld beschafft. Das Stehlen ging an Markttagen ganz leicht; Antonio hatte es ihm gezeigt, und zu zweit klappte es noch besser, wenn einer das Opfer anrempelte und damit ablenkte, während der andere die Börse abschnitt.
Die Münzen trug Carlo in seinem Wams bei sich; er hörte es klimpern, wenn er sich bewegte, und das Geräusch erinnerte ihn beständig daran, was er schon die ganze Zeit tun wollte.
Der Tod des Freiers war ein Zeichen gewesen, ebenso wie Valerias Freundlichkeit und die Art, wie sie ihn hinterher angeschaut hatte, beinahe so, als wäre er ihr wichtig. Ein weiteres Zeichen – und außerdem nötig für sein Vorhaben – war Antonios Abwesenheit. Antonio hätte es nicht geduldet, daran hatte Carlo keinen Zweifel.
Valeria hatte sich keinen neuen Freier für den Abend gesucht; offensichtlich steckte ihr der Schreck über den Tod des anderen noch in den Gliedern. Sie hatte sich heute lange über dem Waschzuber gereinigt, der hinter ihrer Trennwand neben dem Bett stand, und auch danach hatte sie sich noch nicht vollständig beruhigt.
Sie summte zwar ein Lied, während sie auf dem Schemel saß und vor dem Spiegel ihr Haar auskämmte, doch Carlo sah, dass ihr Fuß, mit dem sie den Takt mitklopfte, sich viel zu schnell bewegte.
Er holte tief Luft und erhob sich von der Matte, auf der er mit überkreuzten Beinen gesessen hatte. Wann, wenn nicht jetzt, sollte er sie fragen?
Er hielt ihr die Münzen hin, in dem Bewusstsein, dass es mehr war als das, was ihr der letzte Freier angeboten hatte. Den Zauber dieser seltsamen Metallstücke hatte er nach seiner Ankunft in der Stadt noch rascher verstanden als die fremdartige Sprechweise der hier lebenden Menschen.
»Du und ich«, sagte er. »Valeria und Carlo.« Er deutete auf die Schilfwand, die ihr Bett vom übrigen Raum abschirmte. Seine Hand zitterte, und rasch ließ er sie wieder fallen.
Valeria starrte ihn verständnislos an. »Was?«
Er verletzte ihn, dass sie nicht auf Anhieb begriff, was er wollte. Zögernd streckte er die Hand abermals aus und berührte ihr Haar. Ein Hitzestrahl durchfuhr seinen Körper, als er die weiche Glätte der Strähnen unter seinen Fingerspitzen fühlte, und der Anblick seiner schwarzen Hand auf diesem hellgoldenen Haupt ließ ihn schwindlig werden.
Es traf ihn wie ein Schlag, als sie vor ihm zurückzuckte wie vor einer giftigen Schlange. »Was soll denn das?« Sie schlug seine Hand zur Seite. »Glaubst du vielleicht, ich schlafe mit dir? Bist du verrückt?«
Er verstand sofort, und die Scham brannte in ihm und lähmte sein ganzes Denken, bis er nur noch fühlen konnte, genau wie im letzten Sommer. Er war wertlos, andersartig und hässlich. Sein Körper mochte höchstens dazu taugen, gewaltsam benutzt und dann beiseitegeschoben zu werden, so wie es einem Sklaven anstand.
Mit heißen Wangen wandte er sich ab und stolperte zur Tür.
»Carlo!«, rief sie ihm nach. »Was ist? He, wo willst du hin? Warte!«
Doch er war schon auf dem Weg nach unten, sich mit den Händen an den rissigen Steinwänden abstützend und mit jedem Schritt auf den morschen Holzstiegen nur knapp einem Sturz entgehend. Auf halbem Wege musste er einer Bewohnerin des Hauses ausweichen, die ein greinendes Kleinkind auf dem Arm trug und ihm einen Schwall von Schimpfwörtern hinterherrief, als er sich an ihr vorbeidrängte.
Carlo rannte ins Freie, hinaus auf die Gasse, die zwischen den schief stehenden Häusern hindurch in Richtung Kanal führte. Das Pflaster war von Unrat übersät; überall waren Spuren des Karnevals zu sehen, der immer noch in vollem Gange war. An einer Häuserecke lehnte ein Betrunkener und sang grölend ein unverständliches Lied. In einem Torbogen zerrte ein Mann einer Frau die Röcke hoch, und sie ließ es sich mit vergnügtem Kreischen gefallen.
Um ein Haar wäre Carlo in einer Pfütze Erbrochenem ausgerutscht. Er fing sich nur mit Mühe und rannte weiter, bis er den Kanal erreicht hatte.
Dort blieb er an der Kaimauer stehen, zu seinen Füßen das gluckernde dunkle Wasser. Er beugte sich vor und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab, bevor er sich würgend und hustend in den Kanal übergab.
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