Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
machte ihr keiner mehr was vor, wenngleich sie sich dabei stets hütete, den Namen des Herrn zu missbrauchen.
»Warte«, sagte er. »Du hast da was ...«
Sie zuckte zusammen, hielt dann aber still, als er die Hand ausstreckte und ihr sanft mit den Fingern über den Haaransatz fuhr, jene Stelle, wo ihr roter Schopf über der Stirn in einer kleinen Spitze auslief, ein eigensinniger Wirbel, der ihrem Gesicht ein leicht herzförmiges Aussehen verlieh.
»Was war das?«, fragte sie, und in einer Mischung aus Belustigung und Zuneigung erkannte er, dass sie die Luft angehalten hatte.
»Irgendein Ding mit Flügeln.«
»Ist es weg?« Sie rubbelte sich hektisch über das Gesicht, und er musste grinsen. »Natürlich ist es weg, ich hab’s ja verscheucht.«
»Wirklich?«
»Meine Güte, ja doch! Sei nicht so ein kleiner Angsthase!«
»Ich habe niemals Angst.« Sie besann sich, dann fügte sie hinzu: »Nur vor Ratten und großen Spinnen.«
»Es war keine Spinne.«
»Bist du sicher?« Sie strich sich durch die Haare und betrachtete anschließend ihre Finger.
»Ich sagte doch, es hatte Flügel. Spinnen haben nur Beine. Sie sind nicht ekliger als andere Insekten.«
»Das ist Ansichtssache.«
Sie grinsten einander an, dann schauten sie wieder über die Stadt. Von der Seite betrachtete er zwischendurch verstohlen ihr zartes Profil und fragte sich, wie es kam, dass alle Welt sie für den Jungen hielt, als den sie sich ausgab, während sie für ihn so offensichtlich ein Mädchen war.
Zugegeben, rein äußerlich deutete bis auf den dichten Wimpernkranz um ihre Augen nur wenig darauf hin, dass sie weiblichen Geschlechts war. Sie war dünn wie alle Gassenkinder, das schmale Gesicht von Sommersprossen übersät. Ihr Haar hatte sie mit Valerias Hilfe gleich nach ihrer Ankunft bis auf Kinnlänge gestutzt, es ringelte sich ungebärdig um ihr Gesicht, und hin und wieder, wenn es sie störte, griff sie zum Messer und säbelte sich eine weitere Strähne ab, damit es ihr nicht mehr vor die Augen fallen konnte. Ihr Körper war zäh und beweglich, sie schlug Rad wie niemand sonst und lief fast so schnell wie Antonio, wenn sie am Strand Wettrennen veranstalteten, und hinterher ging ihr Atem deutlich leichter als seiner. Valeria meinte, es läge daran, dass Laura weniger Muskeln mitzuschleppen hätte als er, doch anfangs hatte es ihn gefuchst, dass ein Mädchen, zwei Jahre jünger und um einiges kleiner als er, nach nur wenigen Wochen der Übung so schnell und wendig sein konnte.
Auch beim Stehlen ging sie derart rasch und geschickt zu Werke, dass oft nicht einmal er selbst richtig mitbekam, wie sie es angestellt hatte. Die ersten paar Male hatte sie Angst davor gehabt. Sie hatte sich in Albträumen auf der Matratze gewälzt, die sie mit ihrem kleinen Bruder teilte, doch dann war es für sie so selbstverständlich geworden wie für Antonio.
Sie wandte ihm ihr sommersprossiges Gesicht zu. »Antonio, was möchtest du mal machen, wenn du ein Mann bist?«
Verblüfft erwiderte er ihren Blick. »Was meinst du, wenn ich ein Mann bin?«
Sie krauste die Nase. »Nun, du bist noch keiner, oder?«
Zu seinem Ärger merkte er, wie er errötete. »Was redest du für einen Unfug? Natürlich bin ich ein Mann!« Als wollte seine eigene Stimme ihn Lügen strafen, suchte sie sich ausgerechnet diesen Moment aus, um zwischen rauer Tiefe und piepsiger Höhe hin und her zu springen. Sein Stimmbruch schien länger zu dauern als alle anderen Unannehmlichkeiten, die er bisher im Leben hatte durchleiden müssen, und manchmal wusste er nicht, was schlimmer war, die Pickel oder die Unfähigkeit, seine Stimme zu beherrschen.
»Wenn ich groß bin, möchte ich nicht mehr stehlen«, sagte Laura. »Ich möchte richtige Arbeit tun.«
»Welche Arbeit gibt es schon, die Frauen tun können und Geld dafür bekommen? Außer der einen, mit der Tausende von Weibern sich über Wasser halten.« Seine Frage hatte einen verächtlichen Ton, und diesmal wurde Laura rot, wahrscheinlich eher aus Zorn als aus Verlegenheit. Er wusste genau, wie sie über die käufliche Liebe dachte – im Grunde ebenso wie er. Und doch hatte er nichts weiter gesagt als die Wahrheit. Viele Frauen verdienten ihr Geld als Huren, und ansonsten arbeiteten sie bestenfalls als Tagelöhnerinnen im Arsenal, in Spitälern oder Webereien, aber sie bekamen dafür weit weniger als die Männer, nur einen Hungerlohn, der kaum taugte, das Einkommen des Mannes zu ergänzen.
»Es gibt Frauen, die ihr eigenes
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