Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
sonst stets eine willkommene Zerstreuung im venezianischen Alltag bildete.
»Lass uns runtergehen und nachsehen«, schlug Antonio vor.
Sie eilten über die scheinbar endlosen Stiegen wieder zurück nach unten, meist mehrere Stufen auf einmal nehmend.
Unten am Tor des Campanile stand der Wächter und unterhielt sich mit einem Büttel des Palastes. Antonio blieb kurz stehen und sperrte die Ohren auf, während Laura sich bereits in die Menge schob. Aus den Augenwinkeln sah er, dass sie scheinbar versehentlich eine Frau anrempelte und sich sogleich artig entschuldigte. Er grinste in sich hinein. Sie mochte das Stehlen hassen, aber sie beherrschte es perfekt, und besonders wenn es um Nahrungsmittel ging, verlor sie jede Zurückhaltung.
Antonio erinnerte sich noch sehr genau an ihren Gesichtsausdruck, als das Thema zum ersten Mal zur Debatte gestanden hatte, nachdem die paar Kupfermünzen, die sie damals mitgebracht hatte, aufgebraucht waren. Valeria hatte es mit ihrem üblichen Gleichmut angesprochen. »Wie stellst du dir deine Zukunft vor? Du hast hier bei uns nicht allzu viele Möglichkeiten, wenn du deinen Anteil zur Miete beitragen und dir und deinem Bruder Essen beschaffen willst. Stehlen, betteln oder huren. Wir werden dich bestimmt nicht durchfüttern, also entscheide dich.«
Laura hatte sie schockiert angestarrt. »Ich suche mir eine Anstellung als Magd!«
»Viel Glück«, lautete Valerias gelassene Erwiderung.
Laura hatte es tatsächlich versucht, mehrere Tage lang. Sie hatte sich Matteo auf die Hüfte gesetzt und war durch das Sestiere marschiert. Anschließend hatte sie sich für einen oder zwei Tage aufs Betteln verlegt. Dann war sie zu Antonio gekommen und hatte ihn halb wütend, halb trotzig angeblickt. »Bring mir das Stehlen bei.«
Nun, er hatte es getan, und seither konnte er fast täglich ihre Fertigkeiten in diesem gefährlichen Handwerk bewundern.
Mittlerweile hatte er von der Unterhaltung zwischen dem Turmwächter und dem Büttel genug gehört, um zu wissen, was gleich hier auf der Piazzetta geschehen würde.
Laura war stehen geblieben und wartete auf ihn. Die Frau, der sie einen Apfel aus dem Henkelkorb gestohlen hatte, war bereits weitergegangen.
Laura schob den Apfel in die versteckt angenähte Tasche ihres Wamses, während sie Antonio entgegenblickte.
»Warum warten hier alle? Soll ein Schiff ankommen?«
Antonio zuckte die Achseln. »Nein, ein Boot. Sie bringen einen Verbrecher her und bestrafen ihn.«
»Eine Enthauptung?« Sie schauderte und suchte nach dem Richtblock zwischen den Säulen, doch Antonio schüttelte den Kopf und deutete auf die beiden Wachen, die soeben einen hölzernen Pranger in Position brachten und die Schließvorrichtungen überprüften.
Laura wirkte erleichtert. »Es ist nur der Schandpfahl.«
»Nicht nur«, sagte Antonio. »Heute wird ein Priester bestraft, wegen Gotteslästerung. Er hat geflucht und den Namen des Herrn missbraucht. Wir werden reiche Beute machen.«
»Was tun sie mit ihm?«
»Nichts, was er nicht überleben würde. Am besten, du siehst gar nicht hin, sondern zückst dein eigenes Messerchen und suchst dir eine fette Börse.«
Er sah, dass sie unter ihrer Sonnenbräune blass geworden war, doch dagegen ließ sich nichts ausrichten. Das war eine der Erfahrungen, die sie noch machen musste. Während einer öffentlichen Bestrafung hatte sie bisher noch nicht gestohlen, aber sie würde bald begreifen, wie lohnend es war. Es gab keine bessere Gelegenheit zum Beutelschneiden als eine Hinrichtung oder Verstümmelung, und für Antonio kam es nicht infrage, das auszulassen. Wenn das Glück ihnen hold war, würden sie heute Abend ein Festmahl genießen.
Laura würde diese Prüfung ebenfalls bewältigen, daran hatte er keinen Zweifel, denn mehr noch als ihre Begabung beim Stehlen imponierte ihm ihre Entschlossenheit, die sie dabei an den Tag legte. Ihm kam es so vor, als wüsste sie genau, dass es für sie und ihren Bruder um nicht weniger als um die nackte Existenz ging, denn anders ließ sich ihr unbeugsamer Wille, trotz ihrer Abneigung gegen das Diebeshandwerk die nötigen Methoden zum Überleben zu erlernen, nicht erklären. Antonio erinnerte sich daran, wie er damals denselben Willen entwickelt hatte. Ohne ihn wäre er längst tot.
In der Menge wurden Rufe laut. Vor der Mündung des Canalezzo war das Boot mit dem verurteilten Priester aufgetaucht. Man hatte ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt und ihm eine Eselsmaske vorgebunden. Die
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