Die Landkarte der Finsternis
Ruhe eingekehrt ist, kümmert er sich um Elena und ihr Team, die völlig erschöpft, mit hängendem Kopf am Boden sitzen, die Arme um die Knie geschlungen. Bruno und ich sind unschlüssig, ob wir ebenfalls eines der beiden Zelte ansteuern oder lieber an Ort und Stelle ausharren sollen, bis über unser Schicksal entschieden wird. Der Leiter hat uns keine besondere Aufmerksamkeit gezollt. Es unterscheidet uns ja auch nichts von den anderen Flüchtlingen. In unserer zerrissenen Kleidung, mit unseren Storchenbeinen und unseren betretenen Mienen sehen wir aus wie zwei Vogelscheuchen auf freiem Feld. Der Leiter hockt sich vor die bibbernde Elena, tätschelt ihr aufmunternd das Handgelenk und hilft ihr auf die Beine. Während Elena, Lotta und Orfane ihm in seinem Büro Bericht erstatten, verabschieden sich die beiden Krankenpfleger von uns und steuern einen Seitenflügel des Rotkreuzlagers an. Allmählich lässt das Gewusel der Familien, die sich in den Zelten eingerichtet haben, nach, und man hört nur noch das surrende Rauschen der Generatoren. Das Camp ist flächendeckend von Scheinwerfern erhellt, dazu kommen hier und da ein paar schwachbrüstige Laternen. Man kann die Zelte erkennen, die in Reihen um den Verwaltungsblock gruppiert sind, den ein Wasserspeicher auf metallischen Stelzen überragt; ein massives Gebäude mit hell erleuchteten Fenstern, das nach Krankenstation aussieht; ein weiteres Gebäude, ebenfalls massiv, mit hohem Schornstein, vermutlich der Küchentrakt; dann am Eingang des Ensembles einen Glaskasten, der als Polizeiposten dient, und weiter hinten ein riesiges Hangarzelt, auf dem ein rotes Kreuz prangt. Dazu an der Südseite des Camps noch ein kleiner Fuhrpark, wo sich zwei Ambulanzen und zwei Landrover unterm Wellblechdach ein Stelldichein geben. Man könnte meinen, man befände sich auf einem ländlichen Regimentsstützpunkt. Nichts erinnert an die Flüchtlingslager, die man aus dem Fernsehen kennt. Nirgends Gedränge, nirgends Tumult. Nirgends ein Lagerfeuer und nicht die Spur eines nächtlichen Krawalls. Alles wirkt bestens durchdacht und optimal aufeinander abgestimmt.
Einige Minuten später kommt Lotta Pedersen, um uns zu holen. Sie bringt uns ins Büro des Lagerleiters, eine Fertigbaracke, ausgerüstet mit Schiebeschränken, einem Computer, Polsterstühlen und Regalen, die bis obenhin vollgepfropft sind mit Broschüren und medizinischer Fachliteratur, einem Haufen durchnummerierter, chronologisch aufgereihter Aktenordner, EnzyÂklopädien und Unmengen ordentlich abgelegter Papiere. Elena sitzt abgekämpft auf einem alten, mehr als nachgiebigen Sofa, in der Hand ein Glas Wasser; die Augen fallen ihr fast zu vor Müdigkeit, ihr Gesicht mit den Grübchen ist vor lauter Erschöpfung völlig verzerrt. Orfane hockt auf der Armlehne des Sofas, die Hände über dem Knie verschränkt. Der Lagerleiter, der noch unter dem Schock der Erkenntnis unserer Identität steht, empfängt uns mit überströmender Zuvorkommenheit, bietet uns eine Karaffe mit aufbereitetem Wasser an und erlaubt uns, in Ruhe unseren Durst zu stillen, bevor er uns seine Geschichte erzählt. Er heiÃt Christophe Pfer, stammt aus Belgien und ist schon seit siebzehn Jahren im Dienst des Roten Kreuzes unterwegs â woran unter anderem seine Kinnnarbe erinnert, die aus dem Balkankrieg stammt, und das kaputte Knie, das er sich bei einem Hinterhalt in den Wäldern San Salvadors zugezogen hat. Er ist ein ungeheuer netter Mensch; zwei Jahrzehnte Tuchfühlung mit der menschlichen Dummheit und dem sinnlosen Chaos, das diese rund um den Globus auslöst, haben ihn ruhig und gelassen gemacht. Mit seinem grauen Kräuselhaar, dem buschigen Schnäuzer und seiner lockeren Art erinnert er ein wenig an Lee Marvin in Cat Ballou. Wie jeder, der Radio hört oder Zugang zu einer Nachrichtenquelle hat, wusste er davon, dass zwei Deutsche vor den Küsten Somalias durch Piraten verschleppt worden waren; allerdings war er meilenweit davon entfernt gewesen, sich vorzustellen, einen der beiden im eigenen Büro begrüÃen zu dürfen. Ich erfahre von ihm, dass die internationale Presse nach wie vor über unsere Entführung berichtet und man groÃangelegte Suchaktionen gestartet hat, um uns zu finden. Ob er etwas von Hans Mackenroth gehört hat, frage ich ihn. Leider nein. Und im Ãbrigen vermag er kaum zu glauben, dass tatsächlich
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