Die Landkarte der Finsternis
Türschloss nestelt.
»Oh, danke.«
Als wir in der Diele sind, nimmt sie mir die Tasche ab und hilft mir aus der Jacke.
»Du kannst so lange bleiben, wie du willst«, fährt sie fort. »Meine Mutter nimmt mich gern für ein paar Tage bei sich auf.«
»Das ist sehr nett, aber ich will deine Gastfreundschaft nicht überstrapazieren. Ich muss ja irgendwann nach Hause. Es wird bald dunkel, da werden die Journalisten schon verschwinden.«
»Täusch dich mal nicht. Morgen früh stehen sie wieder bei dir vor der Tür.«
»Dann fahr ich eben in mein Ferienhaus aufs Land.«
»Das ist keine gute Idee. Du warst lange weg. Du brauchst jetzt Menschen um dich.«
Ich lasse mir von ihr den Weg ins Badezimmer zeigen.
Während ich geduscht habe, hat sie sich umgezogen und wartet schon im Wohnzimmer auf mich, in Pulli und Flanellhose. Sie hat sich geschminkt und ihren Knoten gelöst.
»Ich lade dich zum Essen ein«, sagt sie. »Ich kenne ein ruhiges Restaurant, nicht weit von hier.«
»Ich habe überhaupt keine Lust, noch mal auszugehen.«
»Ich habe aber gar nichts im Kühlschrank.«
Sie sieht auf die Uhr, überlegt und beschlieÃt, uns etwas zu essen zu holen.
Ich bin zum ersten Mal in Claudias Wohnung. Ihre Möbel sind alt, aber gut gepflegt. Jedes Stück hat seinen Platz, als gäbe es so etwas wie eine natürliche Ordnung. Das Wohnzimmer ist klein, die Einrichtung genau durchdacht. Keine Bilder an den Wänden, nur eine Reihe Fotos auf einer bauchigen Kommode, davor ein verschossener Teppich und darauf ein altes Ledersofa. Das Fenster, umrahmt von Tüllvorhängen, geht auf einen tristen kleinen Platz hinaus, auf dem ein riesiger Baum sich unter seinem Laubdach verbirgt. Allenthalben parkende Autos, aber nirgends eine Menschenseele. Nicht ein Kind auf dem ganzen Hof und kein einziges Geräusch, das auf irgendeine Form von Leben hindeutet. Ich setze mich aufs Sofa und schalte den Fernseher ein. Mir ist, als wäre es Jahre her, dass ich zum letzten Mal eine Fernbedienung in der Hand hatte. Als Jessica abends immer später aus dem Büro kam, war ich fernsehsüchtig geworden. Ich brachte es nicht fertig, mich, wenn sie nicht da war, in ein Buch zu vertiefen oder im Haus zu werkeln, und so wartete ich lieber, bequem im Sessel vergraben und mit der Bierdose in der Hand, auf die Rückkehr meiner Frau und lieà Schluck für Schluck die Momente dahingleiten wie der Pope die Perlen an seinem Rosenkranz.
Die Abendnachrichten sind in vollem Gange. Der Sprecher verschwindet aus dem Bild, und die Kamera schwenkt auf ein Rollfeld, wo ich mich aus dem Flugzeug steigen sehe. Ich stelle fest, dass ich in meinem neuen Anzug förmlich versinke und auf der letzten Stufe der Gangway gestolpert bin. Dann wird Hansâ Sarg aus dem Frachtraum geholt und zum Katafalk transportiert, an dem die Familie Mackenroth auf ihren Verstorbenen wartet. Eine junge Frau weint, an die Schulter eines Verwandten geschmiegt. Dann die beiden Söhne von Hans in würdiger Haltung, ihnen zur Seite die Gattinnen, ganz in Schwarz. Ich stelle den Ton leise, den Kommentar will ich nicht hören. Ohne Stille ist keine wirkliche Andacht möglich â¦
Dann muss ich wohl eingeschlafen sein, oder vielleicht bin ich auch ohnmächtig geworden. Zum Glück, würde ich sagen.
Fünf Tage nach unserer Rückkehr findet in der Katharinenkirche an der Frankfurter Hauptwache die Trauerfeier statt. Das Gotteshaus ist zum Bersten voll. In der ersten Reihe, neben den Mackenroths, die Bundeskanzlerin und mehrere Regierungsmitglieder. Aus aller Welt sind sie herbeigeströmt, um Hans die letzte Ehre zu erweisen. Neben den deutschen Offiziellen und Prominenten sitzen Turbanträger und Indio-Häuptlinge aus Amazonien, Emire im Festtagsgewand, Botschafter und Industriebarone. Hans war nicht nur ein schwerreicher Industrieller, er war vor allem ein groÃartiger Mensch und ein allseits verehrter Humanist. Der Platz vor der Kirche ist schwarz vor Menschen. Tausende von Unbekannten wollen der Gedenkfeier eines so edlen Spenders beiwohnen, der seine Lebenszeit und sein Vermögen für die Verdammten dieser Erde hingegeben hat. Die Trauerfeier ist von feierlichem Ernst geprägt. Nach der Rede der Kanzlerin, die in höchsten Tönen den Mut und die Selbstlosigkeit des Verblichenen rühmt, deklamiert Bertram ein Goethe-Gedicht, da sein Vater ein groÃer
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