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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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Später bin ich mit Paula hierher zurückgekehrt, um die Erinnerungen aufzufrischen. Aber Paula war keine Wasserratte. Sie litt unter Klaustrophobie und hielt es nicht länger als dreißig Sekunden unter Wasser aus.«
    Ich weiß nicht, warum ich ihm antworte:
    Â»Ich beneide dich um deine privilegierte Kindheit. Mein Vater ist nie mit mir und meiner Mutter ans Meer gefahren. Er mochte kein Wasser, nicht einmal Leitungswasser.«
    Ich habe ihn in Verlegenheit gebracht. Mir ist bewusst, wie un­angebracht meine Bemerkung war, trotzdem konnte ich sie nicht zurückhalten, von ich weiß nicht welchem Dämon getrieben. Hans schaut nachdenklich in seinen Pfeifenkopf, streicht sich mit der anderen Hand über seinen gestutzten Bart und blickt nach etlichen Sekunden zu mir auf:
    Â»Stimmt, ich hatte eine traumhafte Kindheit. Und vor allem das große Glück, meinen Großvater kennenzulernen. Er war ein außergewöhnlicher Mensch, der in den zwanziger Jahren als Theaterautor zu Ruhm gelangt war. Ich war zwölf, ein Alter, in dem man die verrücktesten Pläne hat, und wollte Schriftsteller werden. Eines Tages, als er mit mir im Wald spazieren ging, fragte ich ihn, wie man es denn anstellt, Schriftsteller zu werden. Mein Großvater deutete auf eine Ruine und antwortete: ›Siehst du diese Steinplatte? Was meinst du wohl, wie viel sie wiegt? Mindestens eine Tonne, nicht wahr? Und stell dir vor, ein Zwerg hat sie auf seinem Rücken aus dem Steinbruch bis hierher geschleppt.‹ Ich wandte ein, dass das doch völlig unmöglich sei und dass es mindestens zwanzig Gewichtheber brauche, um diesen Steinquader auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Da erklärte mir mein Großvater: ›Siehst du: zu jedem Ding die passende Geschichte finden und sie spannend erzählen, das ist der Kern der Schriftstellerei.‹«
    Er verstummt, um zu sehen, ob ich begriffen habe, worauf er hinauswill. Hans ist immer sehr zurückhaltend; wenn er je­man­den zurechtweisen will, wählt er lieber den Umweg als die offene Konfrontation.
    Als er merkt, dass ich mir keinen Reim auf seinen Vergleich machen kann, fährt er fort:
    Â»Aus mir ist zwar kein Schriftsteller geworden, Kurt, aber ich habe gelernt, für alles eine Geschichte und eine Erklärung zu finden.«
    Â»Ich kann dir nicht ganz folgen.«
    Â»Mir sollst du auch nicht folgen, sondern deinem eigenen Weg. Die zuverlässigste Stütze findet jeder in sich selbst. Du kannst jeden noch so schweren Steinquader mit jedem beliebigen Hebel hochheben, wenn du dir klarmachst, dass dieser Quader nur in deinem Kopf existiert. Denn da drinnen fügt und findet sich alles«, ergänzt er, während er sich mit dem Finger an die Schläfe tippt.
    Â»Von welchem Quader redest du überhaupt, Hans?«
    Â»Du weißt ganz gut, worauf ich hinauswill.«
    Da begreife ich. Ich habe alles getan, um das unliebsame Thema zu vermeiden, und stolpere jetzt Hals über Kopf aus ­eigenem Verschulden hinein. Auf diesen Moment hat Hans vermutlich gewartet, seit wir vor Zypern den Anker gelichtet haben. Er wollte ihn fairerweise nicht provozieren, hat aber darauf gehofft, und jetzt präsentiere ich ihm die Gelegenheit dazu auf dem Silbertablett. Ich lasse den Blick angelegentlich über die wenigen Schlitze schweifen, die sich im Nebelvorhang auftun, und erkundige mich dann, um das Thema zu wechseln:
    Â»Wo genau sind wir eigentlich?«
    Hans schaut auf seine Uhr:
    Â»Die Meerenge von Bab el Mandeb haben wir längst passiert, und wenn alles gutgeht, sollten wir noch vor Morgengrauen das Rote Meer hinter uns lassen und den Golf von Aden erreichen. Wenn du willst, können wir südlich von Dschibuti in einem kleinen Hafen anlegen, den ich gut kenne. Nicht nur, um unseren Proviant aufzufüllen.«
    Â»Du bist der Kapitän.«
    Â»Wir machen es, wie du willst, Kurt. Wenn du keine Lust hast, ist das nicht weiter schlimm. Wir haben noch Vorrat für mehr als zehn Tage … Ich mag die kleinen Fischerhäfen dieser Gegend sehr und ihre Märkte, die bis unter die Decke vollge­stopft sind mit Plastikgeschirr und pseudoverchromtem, nutzlosem Firlefanz. Die Leute hier sind lustig, selbst wenn sie versuchen, dir zu unverschämten Preisen den letzten Schund anzudrehen. Für sie ist jeder Tourist ein Millionär und so einfältig, dass man ihm eine verrostete Teekanne als Aladins Wunderlampe verkaufen kann. Du

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