Die Landkarte der Finsternis
wirst sehen, ihre Schwindelmanöver sind so sympathisch, dass man sich mit dem gröÃten Vergnügen von ihnen um seine letzten paar Groschen erleichtern lässt.«
Ich schüttele nur den Kopf.
»Ehrlich gesagt haben mir schon unsere Zwischenstopps in Scharm El-Scheich und Port Sudan nicht gefallen, Hans.«
»Warum denn nicht?«
»Zu viele Menschen und zu viel Lärm.«
Hans lacht schallend auf.
»Ich verstehe ⦠Dein Wunsch ist mir Befehl: keine Landgänge mehr vor den Komoren.«
Noch lange plaudern wir auf der Brücke. Wir reden über alles und nichts, ohne lästige Themen anzuschneiden. Seit wir an Bord sind, ist es Hans, der den Ton vorgibt. Ich begnüge mich damit zuzuhören, unterbreche ihn nur, um ihn zum Weiterreden zu animieren, vor allem, wenn es um seemännische Fragen geht. Ich bin eine echte Landratte, kann weder ein Steuerruder halten noch einen Kompass lesen, geschweige denn eine Seekarte. Hans tut nichts lieber, als über das Meer und seine Schiffe zu dozieren, von antiken Kuttern bis zu ultramodernen Hochseekähnen; er ist ein wandelndes Schiffslexikon und sehr stolz auf sein Boot, das er eigenhändig ausgestattet hat. Wenn er auf der Kommandobrücke steht, ist es, als nähme er sein Schicksal höchstselbst in die Hand. In den ersten Tagen, als mich die Seekrankheit gebeutelt hat, habe ich mich, nachdem ich mich über der Ankerklüse ins Meer übergeben hatte, ermattet in einen Sitz fallen lassen, die Arme um die Reling geschlungen, und Hans durch die Glasscheibe des Steuerhauses beobachtet. Er stand aufrecht wie ein Eroberer, den weiÃen Bart hoch am Wind â ein zweiter Kapitän Ahab, nur eben schlohweià und viel moderater. Am Anfang holte er mich noch ans Steuerruder, erklärte mir die Funktion der verschiedenen Anzeigetafeln am Armaturenbrett, zeigte mir Funkgerät, Radar und GPS, dann die Navigationsinstrumente, doch als er merkte, dass ich kaum etwas behielt, hörte er auf, mich damit zu »belästigen«. Ich war mit meinen Gedanken woanders, und seine oberlehrerhafte Art langweilte mich. Ich verbrachte meine Zeit lieber damit, meinen Blick über den Horizont schweifen zu lassen und die Segel im Wind knattern zu hören.
Wenn wir es auch vermieden, von Jessica zu reden, so war Paula allgegenwärtig. Hans sprach von ihr, als hätte sie ihn erst am frühen Morgen verlassen und als könnte er sicher sein, sie am Abend wiederzusehen. Ich begriff, dass sie ihm fehlte, aber er hatte die Gabe, sich damit abzufinden und sie dennoch irgendÂwo in seinem Herzen und Kopf präsent zu halten.
»Es frischt ein wenig auf«, bemerke ich und reibe mir energisch die Arme.
Er stimmt zu.
»Ein letztes Glas vor dem Schlafengehen?«, schlägt er mir vor.
»Ich glaube, lieber nicht.«
Ich dusche und gehe zu Bett. Wie in den Nächten zuvor werde ich das Licht löschen und noch ein oder zwei Stunden lang Fragezeichen in die Finsternis starren. Ich habe im Flieger nach Nicosia begonnen, Musil zu lesen. An diesem Abend stelle ich fest, dass ich noch immer beim ersten Kapitel bin. Unfähig, mich auf den Text zu konzentrieren, fange ich ganz von vorne an. Wie am Abend zuvor, wie jede Nacht davor. Ich mache Musik an, Wagner, immer dasselbe Stück, und irgendwann, mitten in einer Metapher oder einem Satz, löst das Buch sich plötzlich auf, und ich ertappe mich dabei, wie ich geistesabwesend vor mich hin starre. In der komfortablen Stille meiner mahagonigetäfelten Kabine, zwischen all den Platinabzeichen und den geschmackvollen Gemälden an den Wänden, holt mich Jessicas Phantom wieder ein. Ich schlieÃe die Augen, um es wegzuschicken, vergeblich ⦠Am meisten fürchte ich mich vor dem Aufwachen â das Erste, was mir in den Sinn kommt, ist Jessicas Tod â, denn jedes Erwachen trägt die Gefühlsregung in sich, die mich damals im Badezimmer ergriffen hat, als die Liebe meines Lebens für immer von mir ging. Es ist furchtbar. Würde ich wohl eines Tages über diese Tragödie hinwegkommen? Ich frage mich, wie ich es schaffe, aufzustehen, zu duschen, mich zu rasieren, meinen Kaffee zu trinken und erneut meinen Platz auf der Brücke einzunehmen, um dem Meer dabei zuzusehen, wie es der Zeit den Rang abläuft ⦠Da der Tag nur ein Waffenstillstand ist, wird die Nacht mich wieder im Bett antreffen, ihre Finsternis in meine Gedanken träufeln und mir
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