Die Laufmasche
Englisch. Ich fand, dass ich meine Sache wirklich gut machte.
»Wenn es dir zu viel wird, leg einfach den Hörer eine Weile daneben«, riet Beate. »Sonst schaffst du es niemals, den ganzen Stapel Bestellscheine bis heute Abend in den Computer zu hacken.«
Das war ein kluger Rat. Legte man den Hörer daneben, konnte man fünf Minuten an einem Stück arbeiten und schaffte es vielleicht, ein Dokument abzuspeichern, bevor der Computer wieder abstürzte. Ich brauchte zwar dank meiner Kenntnis über die geheimen Kennworte nicht nach Frau Müller-Seitz zu rufen, musste aber oft genug die ganze Arbeit noch einmal machen, wenn ich das Programm wieder gestartet hatte.
»Das ist das albernste Computersystem, das ich jemals gesehen habe«, sagte ich zu Beate, die mich ebenfalls alle zwei Stunden benötigte, um den Apparat mit Tes- sie, Kessie oder Jessie zu füttern.
»Die Stattelmann und die alte Müller-Seitz würden platzen, wenn die wüssten, was du hier tust«, sagte Beate fröhlich.
»Ich verrate dir auch die Kennwörter.«
Aber Beate hob abwehrend die Hände. »Ich will sie nicht wissen. Ich könnte sie niemals für mich behalten! Und wenn herauskommt, dass wir sie kennen, werden sie geändert, und wir sind wieder von der Müller-Seitz und der Stattelmann abhängig.«
Wenn das Telefon nicht klingelte, konnte man immer noch über das Stentofon angerufen werden.
Das Stento- fon war eine Sprechanlage, die in jedem Büro installiert war und in die man nach Knopfdruck hineinschreien konnte. Das war sehr nützlich, wenn man zum Beispiel einen Kunden am Telefon hatte, der die Lieferzeit der Bogenpeitschen, Katalogseite 31, erfragte. Dann konnte man die Nummer des Lagers wählen und in das Stentofon brüllen: »Hallo!
Hallo! Hört mich jemand? Sind die Bogenpeitschen, Artikelnummer 234517, am Lager?« Und wer immer dort unten zuhörte, eilte zu dem Regal, in welchem besagter Artikel lagerte, eilte zurück zur Sprechanlage und brüllte zurück: »Jawohl, die sind am Lager!« oder »Nein, die verdammten Dinger kriegen wir erst in vier Wochen wieder rein!«
»Danke«, konnte man dann brüllen und dem Kunden die brühwarme Neuigkeit gleich mitteilen, wenn er sie nicht sowieso schon mitgehört hatte.
Das Stentofon war ebenfalls praktisch, um einen Mitarbeiter ausfindig zu machen, der sich nicht an seinem Platz befand. Beim Druck einer bestimmten Taste erscholl der Appell dann aus sämtlichen Stentofonen in allen Büroräumen gleichzeitig. Selbst auf den Toiletten waren Lautsprecher installiert.
Immer, wenn ich auf dem Klo war und ein fremdsprachiger Anrufer in der Zentrale landete, holte mich der Ruf »Frau Trost, bitte dringend Telefon!« von der Schüssel. Auf diese Weise gewöhnte ich es mir an, derartige
Aktivitäten auf den frühen Morgen oder den Abend zu verlegen, was meiner Darmflora nicht unbedingt zugute kam.
Meine erste wirklich anspruchsvolle Aufgabe wurde mir dann von Herrn Kernig zugeteilt.
»Diese Pferdebälle«, sagte er. »Ich möchte, dass Sie unsere Kunden im Ausland darüber
informieren.«
»Was für Pferdebälle?«, fragte ich und dachte spontan an Tanzveranstaltungen für ausgewählte Jungtiere.
Herr Kernig zog seine Augenbrauen hoch.
»Über neue Produkte unseres Hauses sollten Sie sich selbstverständlich informieren, ohne extra darauf hingewiesen werden zu müssen«, meinte er vorwurfsvoll.
Ich nahm mir seine Kritik sehr zu Herzen und wagte nicht mehr zu fragen, auf welche Weise ich unsere ausländischen Kunden über die Pferdebälle informieren sollte.
»Und dann sollten wir uns dieser Tage mal wegen der Videos zusammensetzen«, sagte Herr Kernig.
»Das ist immer am Jahresende fällig. Ich erkläre Ihnen das ganz genau, und dann können Sie sich den Kram in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr in Ruhe vornehmen. Dann ist hier sowieso nicht viel los.«
»Zwischen Weihnachten und Neujahr bin ich doch im Urlaub«, sagte ich. »Das müsste schon vorher oder nachher erledigt werden.«
»Wie bitte?«, fragte Kernig.
»Ich hatte das mit Herrn Hoppe so
abgesprochen«, sagte ich ängstlich.
Kernig zog ein fast angewidertes Gesicht.
»Herr Hoppe weiß ganz genau, dass Sie in dieser Zeit keinen Urlaub nehmen können, weil ich dann auch nicht hier bin«, sagte er. »Außerdem sind Sie meine Mitarbeiterin, und Herr Hoppe würde niemals in meine Urlaubsplanung pfuschen.«
»Aber er hat mir fest zugesagt, dass ich den Urlaub nehmen kann. Und, schauen Sie, ich habe ihn sofort in den
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