Die Laufmasche
Den frühen Abgang bedauerte ich keineswegs, im Gegenteil, wer weiß was für Gerüchte Natalie noch alles in die Welt gesetzt hatte.
Als wir den schummrigen Thekenraum betraten und ich hoffnungsvoll nach dem Grünäugigen Ausschau hielt, hörten wir eilige Schritte hinter uns.
»Halt! Felicitas!« Es war Caroline. Sie war völlig außer Atem.
»Der Brief«, keuchte sie. »Du wolltest doch den Brief lesen, der mir damals Glück gebracht hat.«
»Äh, ja«, stotterte ich. »Aber unser Taxi wartet.«
»Das macht nichts«, sagte Caroline. »Du kannst ihn mitnehmen, ich schenke ihn dir einfach. Er wird dir Glück bringen, so wie mir. Du kannst es gebrauchen.« Sie drückte mir den
zusammengefalteten Zettel in die Hand.
»Danke«, sagte ich. Caroline lächelte und kehrte zu den anderen zurück. »Sie kann einem Leid tun«, sagte ich zu Nina. »Sie ist völlig durchgeknallt!«
Der Grünäugige war längst nach Hause gegangen.
Die zweite Gelegenheit
SO EINE PLEITE, schimpfte Nina im Taxi. »Du hättest den Typ wenigstens nach seiner Telefonnummer fragen können! Das war die Gelegenheit!«
Ich seufzte und faltete Carolines Brief auseinander. Es war eine blasse, abgegriffene Kopie, der Maschine geschriebene Text ziemlich erstaunlich.
»Hör doch mal«, sagte ich. »Das ist ein Kettenbrief! Caroline hat mir einen Kettenbrief gegeben!«
»Lauter Nieten, die Männer«, meinte Nina. »Aber wenigstens sind die Frauen alle vor Neid erblasst, als ich gesagt habe, dass ich eine Kinderfrau habe.
Ganztags! Die können ja njcht wissen, dass ich damit meine grauenhafte Schwiegermutter meine!«
Ich hörte ihr nicht mehr zu. Der Brief, dem Caroline den irischen Mann mit Landgut, vierzehn Pferde und baldiges Kindesglück zu verdanken hatte, war wirklich skurril. »Lieber Empfänger-, stand dort in schlechter Schreibmaschinenschrift und noch schlechterem Deutsch. »Dieser Brief wurde vor zehn Jahren von einem Priester auf Haiti begonnen und soll dir Glück bringen. Du musst inerhalb von zehn Tage zehn Kopien anfertigen und diese an zehn Menschen weiterleiten, die dir am Herzen liegen. Harry Peterson aus Philadelphia gewann zwei Tage, nach dem er seine Kopien weg geschickt hatte, zwei Millionen Dollar in der Lotterie.
Hea- ther Matthews aus Maryland wurde noch am gleichen
Tag, an dem sie die Kopien verteilt hatte, von ihrem Knochenmarxkrebs geheilt. Dies soll nur als Beispiel dienen um zu zeigen, wie viel Macht dieser Brief hat. Wenn du es wagst, die Kette zu unterbrechen, wirst du großes Unglück auf dieh lenken. So hat Daryl Jones in Texas den Brief erhalten und einfach vergessen. Iner- halb der nächsten zehn Tage verlor er zuerst seine Arbeit, dann verunglückten Frau und Kinder tätlich mit dem Auto. Glücklicher weise erinnerte er sich an den Brief und schickte doch noch zehn Kopien ab.
Gleich am nächsten Tag fand er eine neue Arbeit.
Dieses Beispiel soll nur als Beispiel dienen, um zu zeigen, was passiert wenn man die Kette unter bricht. Viel Glück.-
Ich musste lachen. »Was hältst du davon?«, fragte ich Nina.
»Man muss schon sehr verzweifelt sein, um an so was zu glauben«, erwiderte sie. »Aber bei Caroline hat es gewirkt. Sie hat mir ein Foto von ihrem Gutshof gezeigt. Traumhaft, sage ich dir. Und der Mann konnte sich auch sehen lassen. Ich hatte wohlweislich alle Bilder von Robert aus meiner Brieftasche entfernt. Auf Fotos sieht er noch dicker aus als in Wirklichkeit.«
In meiner Wohnung - Nina war mit dem Taxi weitergefahren, zurück in ihre Doppelhaushälfte zu Mann und Kind - las ich mich noch einmal durch die abenteuerliche Orthografie von Carolines Brief. Ich hatte gedacht, Kettenbriefe seien seit Hermann völlig aus der Mode gekommen. Hermann war ein kleiner Klumpen Teig, und er kam auch mit einem Kettenbrief. Man musste Hermann in den Kühlschrank stellen und mit Mehl und Milch füttern.
Innerhalb von zehn Tagen wuchs er auf weit mehr als den doppelten Umfang heran. Dann, so schrieb der Kettenbrief vor, sollte man Hermann in drei Stücke teilen. Ein Drittel schenkte man mit besagtem Kettenbrief an einen Freund weiter, aus einem Drittel buk man einen leckeren Kuchen, und das letzte Drittel musste man im Kühlschrank weiterfüttern, bis es wieder teilbar war. Eine Zeit lang hatte auf diese Weise jeder einen Hermann im Kühlschrank gehabt, und eigentlich war das ganz nett gewesen. Das Schlimmste, was einem passieren konnte, wenn man Hermann vergaß, war ein verschimmelter Kühlschrank. Harmlos, wenn
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