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Die Laufmasche

Titel: Die Laufmasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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man es mit den Folgen verglich, die das Ignorieren dieses Kettenbriefes hatte.
    Wenn Caroline mich besser gekannt hätte, hätte sie wissen müssen, dass ich den Brief irgendwo hinlegen, vergessen und damit den Fluch des Priesters auf mich ziehen würde. Ich legte den Brief also irgendwo hin und vergaß ihn. Die Strümpfe mit den Laufmaschen dagegen rollte ich sorgfältig zusammen und legte sie in meine
    Wäscheschublade. Zur Erinnerung an meine erste Begegnung mit einem wirklichen Traummann.
    Das Telefon klingelte direkt neben meinem Ohr.
    »Felicitas Trost.«
    »Ja, guten Tag, hier ist Simone. Ist Ihr Sohn da?«
    Ich kannte keine Simone. Mein Sohn war auch nicht zu Hause. Ich hatte überhaupt keinen.
    »Kann es sein, dass du dich verwählt hast?«
    »Eigentlich nicht.« Das klang beleidigt und selbstsicher zugleich.
    Ich sah auf die Uhr. Viertel vor acht.
    Samstagmorgen. Ein freier Tag. Einer, an dem ich hatte ausschlafen wollen. Und jetzt hatte ich über Nacht einen Sohn bekommen.
    »Wie soll mein Sohn denn heißen?«, fragte ich, um sicherzugehen, dass ich nicht fünfzehn Jahre später aufgewacht war.
    »Mike«, antwortete Simone ungeduldig.
    »Mike? Ausgeschlossen. Du musst dich verwählt haben.«
    Das Gör legte auf, ohne sich zu entschuldigen. Ich ließ mich zurück ins Bett fallen. Mike! So würde ich meinen Sohn nie nennen. Meiner würde David heißen oder vielleicht Jeremie. Ich konnte unmöglich klingen wie eine, die einen Sohn namens Mike hat. Mikes Mutter hatte unter Garantie Dauerwellen und war mindestens sechsunddreißig.
    Sie hatte Mike mit zwanzig bekommen und Manfred, genannt Manni, geheiratet, als sie im fünften Monat war. In Weiß. Mit einer dieser gelockten Kunstseidenschleifen im Haar. Ich zuckte zusammen. Jetzt fing das schon wieder an. Ich malte mir das Schicksal wildfremder Leute aus, von denen ich noch nicht mal wusste, ob es sie überhaupt gab.
    Ich beschloss aufzustehen, den Kater zu füttern und die Fenster zu putzen.
    »Rothenberger!«, rief ich, aber Rothenberger kam nicht.
    Er war ein sehr hübscher Kater, der aussah wie ein Luchs, mit sandfarbenem, grau getupftem Fell, buschigem Schwanz und lustigen Fellbüscheln auf den Ohrspitzen. Seine gelben Augen schielten ziemlich, und deshalb war er nach Anneliese Rothenberger benannt. Rothenberger war ein rücksichtsvoller Kater. Samstags, wenn ich ausschlafen konnte, kam er nie vor neun Uhr von seinen Streifzügen zurück. Er tauchte auch nicht auf, als ich die Lauge für die Fenster anrührte. Er konnte über den Balkon auf das nächste Garagendach
    und von da auf ein verwildertes Grundstück springen. Was er dort tat, konnte ich nur vermuten.
    Meine Fenster hatten es wirklich nötig. Ich pflegte sie in so großen Abständen zu putzen, dass das Saubermachen ein echtes Erfolgserlebnis bot.
    Dummerweise regnete es. Aber da ich mir nun einmal vorgenommen hatte, Fenster zu putzen, tat ich es auch. Zumal es draußen so aussah, als würde es überhaupt nie wieder aufhören zu regnen. Von wegen goldener Oktober.
    Als ich beim vorletzten Fenster angelangt war, klingelte das Telefon. Diesmal ließ ich den Anrufbeantwor- ter rangehen.
    »Hallo, hallo! Und hier ist wieder 'Der Preis ist Scheiß' mit Felicitas Trost. Ich bin im Moment nicht zu Hause, aber unter den ersten zehn Anrufern verlose ich auch heute wieder wunderbare Preise.
    Wer wagt, gewinnt eine formschöne, verchromte Nagelschere, garantiert rostfrei! Sprechefi Sie -
    jetzt!«
    Ich wischte zufrieden die Vögelkacke von der Fensterbank. Immer wieder komisch, mein Anrufbeantworter. Nach dem Piepton sprach meine Arbeitskollegin aus der Presseabteilung von Jorge und Kriechbaum auf Band. Sie sagte, dass sie aus zuverlässiger Quelle erfahren habe, dass der Verlag in den nächsten Tagen Konkurs anmelden und wir alle unsere Jobs verlieren würden. Ich wusste, dass die Quelle sehr zuverlässig war, denn die Arbeitskollegin unterhielt ein streng geheimes Verhältnis mit einem der Geschäftsführer. Trotzdem bewegte ich mich nicht von meiner Trittleiter herunter.
    »Vielleicht«, fuhr die Kollegin mit unverkennbar hysterischem Unterton fort, »vielleicht können die nicht mal mehr die laufenden Gehälter auszahlen.«

Dann fing sie
    an, mein Band voll zu schniefen und zu schluchzen.
    Erst als das Schluchzen verstummt war und die synthetische Frauenstimme des Apparats Datum und Uhrzeit ergänzte, begriff ich die Ungeheuerlichkeit der Nachricht. Aber ich putzte dennoch gelassen zu Ende. Wenn es

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