Die Lautenspielerin - Roman
geboren. Deshalb bist du zu mir gekommen.«
»Vielleicht.« Er vermochte Hippolyt nicht zu sagen, wie schrecklich es war, wenn er den Tod fühlte, wie die kalten Klauen sich für einen Moment um sein eigenes Herz legten und ihn zwangen, in den Abgrund der Hölle zu blicken, wo die Dämonen der Finsternis mit gierigen Klauen auf die armen Seelen warteten. Er hatte das Gefühl, dass sich jedes Mal, wenn er auf die andere Seite blickte, sein eigenes Leben verkürzte.
»Gerwin!« Hippolyt packte seine Hände und drückte sie fest. »Es ist ein Segen. Du bist ein Auserwählter, auch wenn du es niemanden wissen lassen darfst.«
»Nein.« Unsicher sah er seinen Mentor an.
»Du wirst lernen, damit umzugehen. Es bedeutet viel mehr, als nur die Todesstunde eines Menschen sehen zu können!« Leise und eindringlich sprach Hippolyt auf ihn ein. »Du bist ein wahrer Heiler, Gerwin. Ich bin ein Medicus, der diagnostiziert und behandelt, aber wenn du dir mein Wissen aneignest, kannst du mehr vollbringen.«
Verstört und voller Zweifel stand Gerwin vor seinem Meister. »Aber wie? Den Menschen zu sagen, dass sie sterben müssen, ist kein Trost.«
»Für manche ist der Tod Erlösung, und die Gewissheit schenkt ihrer Seele Frieden.« Hippolyt warf einen Blick auf Leander, dessen Lider sich bewegten.
Der Junge wandte den Kopf und öffnete die Augen. Sein klarer Blick traf sie unvorbereitet. »Wer seid ihr?«
»Ich bin Medicus, und das ist mein Gehilfe«, erklärte Hippolyt und setzte sich auf einen Schemel neben Leanders Bett.
Mit der verbliebenen Hand tastete Leander zuerst sein Bein ab, dann erfühlte er den dick umwickelten Armstumpf. Erschöpft sank sein Kopf zurück ins Kissen, Schweißperlen traten auf seine Stirn. »Wo ist meine Mutter? Ich möchte sie sehen!«
Gerwin ging zur Tür und teilte einem Diener den Wunsch des Patienten mit. Aus der Entfernung und im diffusen Licht, das durch die Tür fiel, wirkte Leanders Gesicht voller, die Schatten unter den Augen waren kaum sichtbar, und Gerwin konnte nicht umhin, ihn mit seinem jüngeren Bruder Hanns zu vergleichen. War es eine gewisse Familienähnlichkeit, die er auch in Christoph von Alnbeck sah und die ihn glauben ließ, er sei dem Mann schon einmal begegnet? Die flüchtigen Gedanken verscheuchend ging er zu Leander. »Möchtet Ihr etwas trinken?«
Die Lippen des Jungen waren aufgesprungen und rissig, die Augen blickten groß und ernst zu ihnen auf. »Ich habe einen Engel gesehen. Er wollte meine Hand nehmen, doch ich konnte sie ihm nicht geben, sie war so schwer, dass ich sie nicht heben konnte. Dabei ist sie … sie ist nicht mehr da.« Er stockte. »Was ist passiert?«
»Ihr seid vom Pferd gestürzt, ein böser Bruch des Armes, der nicht zu richten war. Das Bein ist gut verheilt und wird Euch keine Schwierigkeiten machen.« Hippolyt hielt inne.
Das Atmen fiel Leander schwer. Sein Brustkorb hob und senkte sich unter größter Anstrengung, und seine Hand krampfte sich in das Laken. Gerwin strich dem Sterbenden beruhigend über Stirn und Haare. »Es wird alles gut.« Die Worte klangen schal.
Die Tür schwang auf, und die schlanke Gestalt Elisabeth von Alnbecks, gefolgt von Adelia, trat herein. Ein Schal fiel zu Boden, als sie die Arme ausbreitete und auf das Bett zueilte. »Mein Junge …«
Hippolyt machte der Mutter Platz, die sich auf die Bettkante
setzte und ihren Sohn mit tränennassen Augen umarmte, küsste und schließlich sorgenvoll betrachtete. Adelia hielt sich respektvoll hinter ihrer Herrin, die sich nach einiger Zeit erhob und Hippolyt bedeutete, mit ihr ans Fenster zu treten.
»Er ist immer ein kränkliches Kind gewesen und hätte niemals auf die Jagd gehen, diese gefährlichen Pferde reiten und fechten dürfen. Aber mein Mann wollte es so.« Ihr vergrämtes Gesicht wurde noch blasser, die Furchen um den Mund tiefer. »Könnt Ihr etwas für meinen Jungen tun, damit er keine Schmerzen hat? Er hat so viel erleiden müssen …«
»Gewiss.« Hippolyt ging zu seiner Tasche, nahm das Fläschchen mit dem Opiumsaft heraus und träufelte Leander einige Tropfen auf die Lippen.
Elisabeth wartete, bis Leander ruhiger atmete, und wandte sich erneut an den Medicus: »Wann wird mein Junge aufstehen können? Er wird doch gesunden? Seid ehrlich zu mir, ich bitte Euch.«
»Wir tun unser Möglichstes, alles Übrige liegt in Gottes Hand. Betet für Euren Sohn. Wir bedürfen des himmlischen Beistands in kritischen Momenten wie diesem«, sagte Hippolyt
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