Die Lavendelschlacht
und der Alkoholpegel stiegen, langsam, aber stetig.
Zu vorgerückter Stunde, als Tillmann bereits friedlich in seinem Bettchen schlummerte, machte Mona den Vorschlag, Wahrheit oder Pflicht zu spielen. Tolle Idee! Hätte von mir stammen können.
Auf wundersame Weise fühlte ich mich plötzlich in meine Teeniezeit zurückversetzt. Damals hatte das Wahrheit-oder-Pflicht-Spiel nur einem einzigen Zweck gedient: Sturm auf das andere Geschlecht. Man musste beichten, in wen man in dieser Woche gerade verknallt war, oder – das war der eigentliche Sinn des Spiels – einen Jungen küssen. In der Theorie war das, dank der Jugendzeitschrift Bravo, alles kein Problem. Stundenlang fachsimpelten wir auf dem Schulhof, wie ein Zungenkuss technisch einwandfrei zu funktionieren habe. In der Praxis scheiterte es dann an der Tücke des Objekts. Das Objekt hieß Karsten, war eine Klasse über mir und sabberte beim Küssen wie Linus. Aber heute Abend hatten wir diesbezüglich nichts zu befürchten, denn Mona, Frauke und ich waren alle stockhetero. Ergo musste die Knutscherei mangels Masse entfallen. Schade eigentlich...
Wir stellten fest, dass wir auch keine Lust dazu hatten, bei armen alten Leuten Klingelmännchen zu spielen, quakend durch die Wohnung zu hüpfen oder uns auf andere Art zum Affen zu machen, also ließen wir die Pflicht einfach weg. Unser Spiel hieß jetzt nur noch Wahrheit , und die war ohnehin viel spannender! Es war die Nacht der Enthüllungen. Ne, ne, da glaubt man, seine Freundinnen in- und auswendig zu kennen, und dann so etwas! Mit Schwung drehte ich die Flasche. Eine Weile kreiselte sie auf der Tischplatte herum, verlor langsam an Geschwindigkeit, torkelte noch einmal nach rechts, kullerte nach links, bevor sie schließlich ganz zum Stillstand kam. Der Flaschenhals zeigte auf Mona. Ich knabberte auf einem Cracker herum. Mist, so spontan fiel mir einfach keine Frage ein. Jedenfalls keine, die prekär oder indiskret genug gewesen wäre.
Doch dann kam er, der Geistesblitz. »War da was zwischen dir und Josch?«
So, meine Liebe, jetzt mal raus mit der Sprache! Kleine Kinder und Besoffene sagen die Wahrheit, so oder so ähnlich hieß es doch.
»Zwischen mir und Josch?«, echote Mona. Treffer! ... Versenkt! Sie machte ein Gesicht, als hätte ich sie mit den Fingern in Muttis Keksdose erwischt. »Was soll da schon groß gewesen sein ...?«
Wenn ich das wüsste, würde ich nicht fragen!
»Du hast ja auf einmal ganz rote Ohren«, konstatierte Frauke.
»Ach was, das liegt nur am Alkohol.«
»Also, was ist zwischen dir und Josch gelaufen?«, wiederholte ich meine Frage. Ich hatte Blut geleckt...
»Die Wahrheit?« Sie wand sich wie ein Aal.
»Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit«, bestätigte Frauke nachdrücklich.
»Na schön. Wir waren ein paar Mal gemeinsam aus.«
Also doch!
»Und dann hast du unseren charmanten Herzensbrecher abblitzen lassen.«
»Eigentlich war es eher umgekehrt.«
Umgekehrt? Oje, das musste für Mona ein herber Schlag gewesen sein. Sie war es nicht gewohnt, eine solche Niederlage zu verkraften, denn normalerweise war sie es, die die Körbe im Dutzend verteilte.
»Ich war bis über beide Ohren in ihn verknallt, aber er hat mir eine ziemlich unsanfte Abfuhr erteilt. Schon bei unserem dritten Treffen hat er mir gesagt, dass er nicht in mich verliebt ist und dass nichts aus uns werden wird.«
»Und?«, fragte Frauke neugierig.
»Kein ›und‹. Wir waren nicht zusammen im Bett, falls ihr das meint. Obwohl ich ihm, das muss ich zu meiner Schande gestehen, ein ziemlich eindeutiges Angebot gemacht habe. Ich kann euch sagen, ich war ganz schön gekränkt, als er mich einfach so hat abblitzen lassen. Aber mittlerweile bin ich darüber hinweg.« Sie musterte mich durchdringend. »Seit geraumer Zeit habe ich allerdings den Eindruck, dass er in dich verschossen ist. Beruht das auf Gegenseitigkeit?«
Nun war es an mir, rot zu werden. Ich hatte Joschs Postkarte, die das Haus Sonnenblick zusammen mit Tante Friedas Scheck und vielen warmen Worten an mich weitergeleitet hatte, so oft in die Hand genommen, dass die weißen Berggipfel schon ganz abgegriffen waren. Plötzliche Schneeschmelze. Bestimmt hundertmal hatte ich seine Zeilen gelesen. Besonders den Satz, dass er sich schon darauf freuen würde, mich wieder zu sehen. Falls Josch sich beim Skilaufen nicht seinen hübschen Hals gebrochen hatte, war es übermorgen, in der Redaktion, endlich so weit. Jedes Mal, wenn ich daran dachte, spürte
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