Die Lazarus-Formel
mit dem Strahl ihrer Taschenlampe ab. Dann aber schüttelte sie energisch den Kopf. »Bäume wachsen nicht in Höhlen ohne Sonne.«
Margaret sah sie an, wie man ein ungeduldiges Kind ansah, und schmunzelte liebevoll. »Sag, Eve, warum bist du eigentlich Forscherin geworden, wenn du doch immer schon im Vorfeld glaubst, alles, was es zu wissen gibt, bereits zu kennen?«
»Das tue ich gar nicht«, verteidigte sich Eve und hätte sich fast auf die Lippen gebissen, als sie merkte, dass sie sich nun auch noch so anhörte wie ein eigensinniges Kind. Beinahe hätte sie auch noch trotzig die Arme vor der Brust verschränkt.
Margaret zog eine Augenbraue hoch. »Hast du nicht auch in den Katakomben behauptet, das Volk, das Odin und die Yggdrasil anbetet, wäre erst nach den Kelten und sogar erst nach dem Abzug der Römer nach England gelangt?«
»Zugegeben«, gestand Eve ein. »Aber Geschichte kann man fälschen, Photosynthese nicht. Pflanzen wachsen nicht ohne Sonne. Und das hier ist auch gar keine echte Pflanze.«
»Hab Geduld, Eve«, bat Margaret heiter. »Ich habe versprochen, mein Geheimnis mit dir zu teilen, und ich werde mein Versprechen halten. Nicht nur für Guillaume de Saint-Clair. Auch für meine Befreiung aus den Klauen des Ordens.«
»In Ordnung«, lenkte Eve ein und kämpfte ihre Neugier nieder. Zumindest soweit es ihr möglich war. »Was muss ich tun?«
»Abwarten«, sagte Margaret kryptisch.
Eve schnaubte. So viel zum Niederkämpfen der Neugier. »Abwarten. Geduld. Vertrauen«, resümierte sie fast schon zeternd, was außer Margaret auch Ben die ganze Zeit über von ihr verlangt hatte. »Ich bin Forscherin, verdammt. Ich will wissen .« Nun hatte sie doch mit dem Fuß aufgestampft, und die Erkenntnis ließ sie erröten.
Margaret lächelte geheimnisvoll und doch so nichtssagend wie die Sphinx und schloss die Augen. »Fühlst du das?«
»Was?«, fragte Eve.
»Schließ die Augen.«
»Ich soll …?«
»Schließ einfach die Augen, Eve.«
»Also gut.« Eve gehorchte. Doch es fiel ihr verflucht schwer.
»Fühlst du es?«, fragte Margaret noch einmal, aber Eve fühlte nichts.
»Nein«, antwortete sie wahrheitsgemäß.
»Unter deinen Füßen«, sagte Margaret.
Eve konzentrierte sich auf ihre Füße. Auf die Fußsohlen. Und wirklich – kaum merklich zunächst, aber je mehr sie ihre Sinne darauf fokussierte, immer deutlicher, spürte sie ein leises Kribbeln, ein Vibrieren. Ganz sanft.
»Der Berg singt«, flüsterte Margaret.
Eve nahm ein tief tönendes, kaum hörbares Summen wahr. Tatsächlich fühlte sie es mehr mit den Sohlen ihrer Füße als dass sie es mit den Ohren hörte.
»Das tut er drei- bis viermal in der Stunde«, sagte Margaret so leise, als wollte sie den Berg nicht stören. »Seit ich ihn kenne. Und vermutlich schon Tausende von Jahren zuvor.«
Der schlafende Vulkan.
Das Summen wurde zum Brummen und schließlich zum Grollen. Die Frequenz war so niedrig, dass man sie tatsächlich nicht wirklich hören, sondern nur spüren konnte. Unter der Haut, in den Schläfen, im Brustkorb.
»Und jetzt komm mit«, sagte Margaret, und Eve machte die Augen wieder auf. Die kleine Königin ging hinüber zu dem Felsrelief der Yggdrasil. Eve folgte ihr.
»Sieh dir das an.« Margaret deutete auf eine Stelle, an der das Relief in den Felsen überging. Das heißt, wo es eigentlich in den Felsen übergehen sollte . Denn das tat es zu Eves Verwunderung nicht. Zwischen dem Baum und der Felswand dahinter gab es einen gerade mal einen Millimeter breiten Spalt. Der gesamte Baum war gar nicht aus dem Felsen gehauen. Er war irgendwie daran angebracht. Und die tiefe Vibration des Vulkans machte das sichtbar.
Margaret ging wieder einen Schritt zurück und zog Eve am Arm mit sich. Dann zeigte sie auf den Baum. »Du musst genau hinsehen.«
Eve beobachtete das Gebilde – und sah, wie sich der Baum leicht nach rechts neigte. Der ganze Baum. So als wäre das gut vier Meter hohe Bildnis nur in der Mitte über eine Achse mit der Wand verbunden. Und auch der Drache unten links von der Wurzel bewegte sich. Sein Unterkiefer klappte nach unten. Margaret legte eine Hand an die untere Hälfte des Baumes und drückte sie ohne große Kraftanstrengung weiter nach links. Die äußere Wurzel näherte sich dem Drachenmaul.
Weiter und weiter neigte sich der Baum um die mittlere Achse, sodass die Krone nach rechts, die Wurzel nach links wanderte. Die Wurzelspitze glitt zwischen die Zähne des Drachen und drückte die Kiefer noch ein
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