Die Lazarus-Formel
waren, als Vollreliefs, am Stück aus den bogentragenden und in den Raum hineinragenden Seitenmauern gemeißelt.
Margaret zog ihr Schwert unter dem Mantel hervor und führte die Spitze etwa in Brusthöhe in den schmalen Schlitz zwischen den beiden Säulen. Zu Eves Überraschung glitt die Klinge tiefer in die Steine, als es eigentlich hätte möglich sein dürfen, und schließlich ragte nur noch der Griff hervor.
Margaret drückte ihn nahezu ohne jede Anstrengung wie einen Hebel nach oben, und Eve hörte im Boden des Altarraums ein leises Klacken, so als sei ein Schloss aufgesprungen.
Die kleine Königin zog das Schwert wieder hervor und steckte es unter den Mantel zurück.
»Hilf mir«, bat sie und ging hinüber zum Altar, einem etwa einen Meter breiten und achtzig Zentimeter hohen Steinquader. Sie stützte sich mit beiden Händen gegen dessen rechte Seite und forderte Eve mit einem Nicken auf, es ihr gleichzutun. »Drücken.«
Sie drückten.
Für einen kleinen Moment geschah gar nichts. Dann aber gab es einen kleinen Ruck, und der Altar rutschte mit einem Knirschen zur Seite. Darunter kam ein Loch zum Vorschein.
Margaret holte ihre Taschenlampe hervor und schaltete sie ein. »Sehr viel praktischer als Fackeln«, sagte sie heiter und leuchtete in das Loch hinunter. »Und so viel handlicher.«
Eve sah schmale aus dem Felsen gehauene Steinstufen.
»Bereit?«, fragte Margaret.
Eve merkte, dass ihr Mund außergewöhnlich trocken war und ihr Herz schneller schlug. Ihre Hände waren ganz feucht. »So bereit man dafür überhaupt sein kann. Also nicht wirklich.«
»Das wird schon«, sagte Margaret beruhigend. »Und in tausend Jahren werden wir zusammen darüber lachen.« Dann betrat sie die erste Stufe nach unten.
78
Die schmale Treppe führte steil und immer tiefer in den Vulkanfelsen unter der Kapelle. Dabei wand sie sich in einer leichten Schneckenhausbiegung ähnlich der Treppe außen, über die sie vom unteren in den oberen Burghof gelangt waren. Die Wände waren so verwittert, dass Eve nicht erkennen konnte, ob auch sie, wie die Stufen, in den Felsen gehauen worden waren oder ob der Gang ein beim Erkalten des Lavapfropfens entstandener natürlicher Felsspalt war.
Dreiundsechzig, vierundsechzig, fünfundsechzig, sechsundsechzig … Sie zählte wie gewohnt mit.
Dann hatten sie das untere Ende der schmalen Treppe erreicht und standen in einer Höhle, die nicht sehr viel größer war als die Kapelle oben, aber um einiges höher.
»Da wären wir.« Margaret leuchtete an die gegenüberliegende Wand. »Sieh dir das an.«
Eve folgte mit dem Kegel der Taschenlampe der angegebenen Richtung.
Obwohl sie auf ihrer abenteuerlichen Reise inzwischen so einiges gesehen hatte, konnte Eve kaum glauben, was sie in den Lichtkreisen der beiden Lampen erblickte. Ein etwa vier Meter hoher Baum war in den Felsen gemeißelt. In seiner weit ausladenden Krone, die aus in typisch nordischen Mustern mit- und untereinander verwobenem Astwerk bestand, saß ein Adler. Etwas abseits, links unter der fast ebenso breit wie die Krone gefächerten Wurzel, kauerte ein ebenfalls in den Stein gemeißelter, in sich verschlungener Drache.
»Yggdrasil«, sagte Margaret voller Ergebenheit. »Die Welteneibe des Odin.«
Sofort musste Eve an den bronzegeschmiedeten Baum des Lebens denken, den sie mit Ben zusammen in dem Museum in China untersucht hatte. Und an all die Zeichnungen und Abhandlungen in Feldmanns Notizbuch zu den Mythologien der Sumerer, Assyrer, Inder und Azteken.
Baum, Vogel, Drache.
Oder, wie im Falle der hebräischen Schriften: Baum, Engel, Teufel.
Das Relief war alt. Uralt.
Eve konnte die außergewöhnliche Heiligkeit des Ortes fühlen, aber sie hatte immer noch keine Ahnung, wie ein Wandbild Menschen unsterblich machen sollte.
»Ich verstehe nicht«, sagte sie deshalb auch zu Margaret. »Die ganze Zeit über war die Rede davon, dass Osiris Sprösslinge vom Baum des Lebens auf der ganzen Welt verteilt und versteckt hat und dass das hier vermutlich der letzte davon ist.«
»Ja«, stimmte Margaret zu, sagte aber sonst nichts weiter und stand einfach nur so da.
»Ich habe einen echten Baum erwartet«, erklärte Eve, »nicht das Abbild eines Baums.«
»Zu Recht«, sagte Margaret. »Warte. Gleich wirst du den echten Baum sehen.«
Eve fragte sich, ob das vielleicht ein Wortspiel war, und betrachtete das kunstvoll ausgeführte Felsrelief genauer. Möglicherweise übersah sie ja etwas Entscheidendes. Sie suchte die Welteneibe
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