Die Lazarus-Formel
und der Fremde stand plötzlich außerhalb des Kreises, noch ehe der enthauptete Körper des mittleren Kuttenträgers zu Boden sackte. Auch der Angreifer daneben wankte plötzlich und sah erstaunt an sich herab. Eve folgte seinem Blick zu seinem Bauch, wo die Kutte der Länge nach aufgeschlitzt war. Etwas Nasses klatschte unter dem weiten Gewand auf den Stein vor seinen Füßen. Der plötzliche Gestank verriet Eve, was es war, und sie verzog das Gesicht – wie auch der Mann, der neben seinen über den Boden quellenden Gedärmen in die Knie brach.
Eine einzige Attacke, zwei Männer tot.
»Wollt ihr jetzt gehen?«, fragte der Fremde ruhig. Nicht einmal sein Atem hatte sich beschleunigt.
Die übrigen drei zögerten. Aber nur für einen Moment. Dann sagte der, der eben schon gesprochen hatte, zu einem der anderen beiden: »Du kümmerst dich um die Frau, Antonius.«
Der Angesprochene ging nach vorn gebeugt auf Eve zu, während sich die zwei anderen auf den Fremden stürzten. Eve nahm den Rucksack so am Riemen, dass sie ihn wie eine Keule schwingen konnte, ahnte aber, dass ihr das nicht viel helfen würde gegen einen Mann mit Schwert und Dolch. War ihr bis eben, nach den Ereignissen im Turm und der Begegnung mit dem Fremden, das Auftauchen von mit Schwertern bewaffneten Männern in Kutten völlig unwirklich erschienen, so als würde sie einen Kostümfilm im Fernsehen sehen, hatte sie plötzlich wieder ganz reale Angst.
Das hier war kein Film. Der Mann, der auf sie zukam, wollte ihr wirklich den einen Meter langen Stahl in den Körper rammen und sie töten. Allein die Vorstellung ließ Eve am ganzen Leib zittern, und sie fühlte, wie ihr Herzschlag vor Panik zu holpern begann und sie plötzlich ganz schnell schnaubte. Doch nach zwei Schritten hielt der Killer mit dem Namen eines Heiligen abrupt inne – und richtete sich seltsam ruckartig auf. Aus seiner Brust ragte die rot beschmierte Spitze eines Krummschwerts aus Damaszenerstahl. Er fiel vornüber – vermutlich hatte die Klinge seine Wirbelsäule durchtrennt –, und Eve sah weiter hinter ihm den Fremden, der nur noch ein Schwert hielt und sich für den Angriff der anderen beiden in Position stellte. Das andere Schwert musste er geworfen haben – und es hatte mit tödlicher Wucht und Präzision getroffen!
Seine klaren Bewegungen erinnerten Eve an Kendo, die Schwertkunst der Samurai, kontrolliert, aber dynamisch. Die zentrierte Balance einer Ballerina gepaart mit der urwüchsigen Kraft eines angreifenden Tigers, dessen Glaubenssystem keine Niederlage kennt. Und genau wie der wartete er nicht, bis seine Gegner ihn erreichten.
Er sprang ihnen entgegen. Dabei stieß er einen merkwürdig fremdartigen Kampfschrei aus, der noch von den Klostermauern widerhallte, als die beiden schon zuckend am Boden lagen.
Der Kampf hatte nicht mehr als einen Herzschlag gedauert. Ein Killer mit der Präzision eines Schachgroßmeisters , dachte Eve erschaudernd.
Er drehte sich nicht einmal mehr zu seinen Gegnern um, als er sein Schwert zurück in die Scheide auf seinem Rücken stieß und auf Eve zuging. Dabei zog er sein zweites Schwert aus dem Rücken des Mannes, der Eve hatte töten wollen.
»Haben Sie den Stein?« Die Frage hatte er schon einmal gestellt, als die Männer aufgetaucht waren.
»Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen«, sagte sie wahrheitsgemäß und machte einen Schritt zurück.
Er setzte ihr nach und riss ihr den Rucksack aus der Hand, wühlte darin. Dabei fiel Feldmanns Notizbuch heraus und zu Boden.
Und dann geschah etwas, das Eve als noch unglaublicher empfand als alles bisher schon Geschehene: Ihr Retter fluchte, knurrte, »Sie warten hier!«, drückte ihr den Rucksack zurück in die Hände und stürzte sich in den inzwischen fast vollständig brennenden Turm.
Für einen Moment starrte Eve ihm nach. Dann hob sie eilig das Notizbuch vom Boden auf, stopfte es zurück in den Rucksack und rannte durch die schmale Tür im Tor zu ihrem Wagen. Sie sprang hinein, startete ihn und fuhr mit quietschenden Reifen davon in die Nacht.
Nur weg hier!
15
Risinghurst bei Oxford.
Stanway Road.
Was, zur Hölle, war in dem Kloster geschehen?
Eve hatte immer noch keine Ahnung, was vor sich ging. Die Erkenntnis, dass Melchior Feldmann offensichtlich den Schlüssel zur ewigen Jugend entdeckt hatte, war schon erschütternd genug gewesen, wenn auch auf positive Weise. Alles, was danach geschehen war, war nicht nur furchtbar irreal und bedrohlich, es ergab auch einfach überhaupt
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