Die Lazarus-Formel
Wandmalereien aus Blattgold und Lapislazuli schienen in diesem Funkeln lebendig geworden zu sein und zu pulsieren. Kabir brauchte einige Sekunden, ehe er begriff, dass das nur eine Reaktion seines Sehfelds auf seinen eigenen, ungewohnt starken und schnellen Herzschlag war.
»Und jetzt beantworte meine Frage. Was warst du, ehe ich mich deiner annahm?«
»General, mein Gebieter.«
»Irgendein General, Kabir?«
»Nein, Herr«, beeilte sich Kabir zu sagen. »General in der Armee Nebukadnezars.«
»Nebukadnezar«, sagte sein Herr versonnen, so als würde er sich den Namen auf der Zunge zergehen lassen. »Vernichter ganzer Völker. Und du warst die Hand, die sein Schwert führte.« Kabir nickte demütig, und sein Herr fuhr fort: »Das war vor mehr als zweitausendsechshundert Jahren. Du und ich, wir trafen uns während des einzigen Feldzugs, den du jemals verloren hast.«
»Dem Feldzug gegen Ägypten«, bestätigte Kabir, und er erinnerte sich, als wäre es erst gestern gewesen, an jenen schicksalhaften Tag, der sein ganzes Leben verändert hatte.
»Und warum hast du ausgerechnet diesen Feldzug verloren, wo doch viele der anderen Armeen, die du bis dahin besiegt hattest, stärker waren als die ägyptische?«
»Weil Ihr damals mein Gegner wart, Herr.«
»Weil ich dein Gegner war«, wiederholte sein Gebieter. »Genau. Aber außer mir warst du der größte Feldherr deiner Zeit, ein majestätischer Falke in einem Schwarm schwacher Sperlinge. Deshalb habe ich dich damals in meine Dienste aufgenommen. Deshalb habe ich dir das Geschenk des ewigen Lebens und dich zu meiner rechten Hand gemacht, Kabir. Zu meinem engsten Vertrauten.«
»Und ich hoffe, Mylord, ich habe mich in all der Zeit dieses kostbaren Geschenks als würdig erwiesen«, sagte Kabir mit heiligem Ernst in der Stimme.
»Niemand war je loyaler«, bestätigte sein Gebieter. »Nicht einer.«
»Danke, Herr.«
»Jeder andere hätte in all den Jahrhunderten, die seither vergangen sind, versucht, die Position an meiner Seite auszunutzen und auf eine Gelegenheit gelauert, mein Imperium an sich zu reißen. Nicht aber du. Wieso nicht?«
»Ihr habt mir die Unsterblichkeit …«
»… geschenkt, ja, ja, ich weiß.« Sein Herr winkte ab. »Das habe ich auch anderen. Aber nicht wenige davon haben sich früher oder später gegen mich gewandt, um mir meine Macht zu entreißen. Du nicht. Also, Kabir, was ist der Grund für deine unerschütterliche Treue?«
Kabir musste nicht lange nachdenken. »Erinnert Ihr Euch an unser Duell vor den Mauern von Sa ï s?«
Sein Herr lächelte. »Ich hatte deine Armee, obwohl du dich sehr um ein früheres Aufeinandertreffen bemüht hast, in das Delta des Nils gelockt, genau zu dem Zeitpunkt, da Sirius das erste Mal in jenem Jahr zusammen mit der Sonne am Morgenhimmel stand. Ich wusste natürlich – anders als du –, dass das Nildelta an diesem Tag überschwemmt werden würde, so wie jedes Jahr an diesem besonderen Tag.«
Kabir würde dieses Massensterben, das vor der höher gelegenen Festung Sa ï s stattgefunden hatte, niemals vergessen, selbst wenn er noch einmal zweieinhalb Jahrtausende lebte. Es verging kaum eine Nacht, in der ihn die Schreckensbilder nicht schweißgebadet aus dem Schlaf aufschrecken ließen. »Zwei Drittel meiner Männer ertranken, und das verbleibende Drittel ergriff die Flucht zurück nach Babylon.«
»Nur du nicht«, sagte der Herr. »Du bist nicht geflohen.«
»Ich bin kein Feigling, Mylord.«
»Nein, das bist du nicht.« Sein Gebieter lachte. »Du hast dich vor das Stadttor gestellt, meinen Namen gerufen und mich verflucht. Du hast mich vor all meinen Untertanen als feigen Schwächling beschimpft. Warte, deine genauen Worte waren: ›Nachgeburt einer Viper.‹«
»Zu dem Zeitpunkt konnte ich noch nicht wissen, wer Ihr wirklich wart, Mylord«, sagte Kabir zu seiner Verteidigung.
»Nein, das konntest du wahrlich nicht. Wie auch? Aber du hast damals meinen ehrwürdigen Namen beschmutzt. Einen Namen, vor dem die Welt zitterte. Ich musste ihn reinwaschen. Mit deinem Blut. Also ließ ich das Tor öffnen und bin dir beim Grab des Osiris entgegengetreten.« Seine Stimme schwankte ein wenig, als er den Ort erwähnte.
»Ohne Rüstung«, erinnerte sich Kabir, »und nur mit dem Säbel bewaffnet, den Ihr auch heute in Eurer Hand haltet.«
»Ich habe ihn ganz bewusst für dieses Gespräch gewählt.«
»Es hätte ihn nicht gebraucht, mir die Demütigung von damals wieder vor Augen zu führen. Ich werde sie nie
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