Die Lazarus-Formel
mochten, ohne ihn wäre sie nicht mehr am Leben. Tot. Nicht mehr existent. Nein, vertrauen konnte sie ihm nicht, aber dankbar war sie ihm dennoch.
Und sie hatte angefangen ihn zu mögen – trotz seiner manchmal ruppigen und herrischen Art. Wenn sie ehrlich sich selbst gegenüber war, vielleicht zum Teil sogar deswegen. Er war der erste Mann seit langem, der sich nicht einschüchtern ließ von ihrer Intelligenz und ihrer daraus resultierenden fordernden Art, die Dinge kontrollieren und steuern zu wollen.
Sie hätte nie geglaubt, dass das einen Mann so attraktiv machen konnte. Ob die Tatsache, dass er obendrein unsterblich war, diese Attraktivität noch steigerte oder sie eher abschreckte, konnte sie noch nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Auf jeden Fall schüchterte es sie ein, worüber sie sich selbst ein wenig wunderte.
Der Mann an ihrer Seite konnte gerade mal so alt sein, wie er aussah, oder Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende. Wenn Letzteres zutraf, war es ihr unmöglich, sich auszumalen, was diese furchtlosen Augen schon alles gesehen, was er schon alles erlebt haben mochte.
Sollte alles glatt gehen und sie dieses Abenteuer überleben und finden, was zu suchen sie aufgebrochen war, würde sie noch genug Zeit haben, ihn danach zu fragen.
Sehr viel Zeit , schoss es ihr durch den Kopf.
Nach der Landung und der Taxifahrt zum Hotel bezogen sie zwei Zimmer, die durch eine Tür miteinander verbunden waren. Sie hatten geduscht und sich neu eingekleidet und waren nun zu Fuß auf dem kurzen Weg zum Museum, vorbei an den Werkstätten und Souvenirshops. Es war bereits später Nachmittag.
»Sie müssen damit aufhören, mich jedes Mal zu betäuben, nur weil Sie eine Diskussion für beendet erachten«, sagte sie grummelnd.
Er schmunzelte. »Dann lernen Sie, ein Nein als Antwort zu akzeptieren.«
»Ich bin Wissenschaftlerin. Ich muss Fragen stellen.«
»Bei den Göttern«, stieß er hervor. »Ich bin doch keines Ihrer Forschungsobjekte.«
Sie legte den Kopf schief und betrachtete ihn. »Genau genommen, Ben, sind Sie seit meiner Entdeckung im Flugzeug genau das: ein Forschungsobjekt.«
»Wollen Sie mich sezieren? Meine Hand aufzuschlitzen war da ja schon mal ein Anfang.«
»Ich will Ihnen vertrauen können, Ben.«
Er blieb stehen, sah sie an, und sein Blick versank in ihren Augen. »Dann tun sie es einfach, Eve.« Seine tiefe Stimme kroch ihr unter die Haut.
»Wie meinen Sie das?«
Sein Blick wurde ganz sanft. »Obwohl ich Ihnen jetzt schon mehrfach das Leben gerettet habe, meinen Sie, dass ich mir Ihr Vertrauen erst noch verdienen muss, und zwar indem ich Ihnen alles sage, was Sie wissen wollen?«
»So ist das mit Vertrauen eben.«
»Nein, Eve«, widersprach er. »Vertrauen ist etwas, das man schenkt, nicht etwas, das sich der andere erst verdienen muss. Sie müssen mir vertrauen wollen.«
»Das will ich ja.«
»Wie gesagt, dann tun Sie es einfach.«
»Das ist nicht so leicht.«
»Ist es doch. Ich vertraue Ihnen ja auch.«
»Wie sich herausgestellt hat, haben Sie auch wesentlich weniger zu verlieren als ich.«
Ein Schatten legte sich über seine sonst so klaren Augen.
Hatte sie ihn verletzt?
Sein Gesicht wurde wieder ernst, er drehte sich herum und ging weiter in Richtung Museum. »Dann vertrauen Sie mir eben nicht. Das wird mich nicht umbringen, wie Sie ja jetzt wissen.«
Eve wollte ihm nacheilen und etwas Tröstendes sagen – ohne sich im Klaren darüber zu sein, warum sie das tun wollte. Sie spürte deutlich, dass sie ihm tatsächlich wehgetan hatte, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, womit.
Doch ehe sie ihn einholen konnte, entdeckte sie am Straßenrand eine Steinmetzwerkstatt, und plötzlich schoss ihr eine Idee durch den Kopf.
Statt Ben nachzulaufen, ging sie eilig in das Geschäft.
39
Eve fand, dass das Innere der Steinmetzwerkstatt aussah wie in einem Kung-Fu-Film aus den Siebzigern. Überall windschiefe Regale aus armdicken Bambusrohren, mit Tuschemalereien verzierte Lehmwände, grob gewebte Leinenvorhänge, spiegelnd-glänzende Lackschränke mit Drachenmotiven. In den Regalen Figuren aus Stein, Ton und Jade. Die Werkstatt war zugleich auch ein Souvenirladen.
Sehr gut , dachte Eve und ging zu dem Chinesen hinter dem Tresen, der gerade an der etwa daumengroßen Jadefigur eines Pferdchens feilte. Er war kleiner als sie, in den Sechzigern und hatte die gedrungen-muskulöse Gestalt eines Schwerarbeiters, was das kleine, filigrane Kunstwerk zwischen seinen
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