Die Lazarus-Formel
großen Hass er gegen die Mädchenfrau empfand. Hass, wie er ihrer Erfahrung nach nur durch Machtlosigkeit entsteht.
»Oh, das wäre schön«, sagte Margaret und seufzte laut. »So schön. Aber es darf nicht sein. Ihr dürft sie nicht finden.«
Eve fragte sich, was sie mit »sie« wohl meinen mochte.
»Egal«, sagte Margaret dann. »Sie ist ohnehin bloß eine eurer Spioninnen und das alles hier eine Farce.« Sie sank wieder in sich zusammen. »Farce-Farce-Farce.«
»Also?« Der Einhändige wandte sich wieder Eve zu. »Wo sind der Stein und der Fremde?«
Eve schaute ihn an – und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Das letzte Mal habe ich sie gesehen, kurz bevor ich entführt wurde.« Damit verriet sie nichts, was sie nicht schon von dem Steinmetz wussten.
»Wer ist er, und warum beschützte er Sie?«
»Das habe ich ihn auch mehrfach gefragt.«
»Sie sollten wirklich reden, Doktor Sinclair.«
Sie erinnerte sich, was die Hüter Anne und Melchior Feldmann angetan hatten. Die aufgeschnittene Kehle. Der Armbrustbolzen in der Stirn. Und natürlich erinnerte sie sich an den brennenden Klosterturm. Niemals würde sie den vergessen. Sie wusste also, wozu diese Männer imstande waren.
»Ja, wahrscheinlich sollte ich das«, sagte sie deshalb. »Und vielleicht würde ich das sogar. Aber die ehrliche Antwort auf alle Ihre Fragen lautet: Ich habe keine Ahnung.«
»Wir werden sehen«, sagte der Einhändige …
… und nickte dem Mann mit der Peitsche zu.
46
Der Mann sperrte die Tür auf und trat zu Eve in die Zelle. Sie wollte zurückweichen, doch mit einem schnellen Satz war er bei ihr und packte sie am Handgelenk. Als sie ihm mit der anderen Hand ins Gesicht schlagen wollte, blockte er ihren Arm mit dem Stiel der Peitsche so hart, dass sie glaubte, er hätte ihr die Elle gebrochen. Der Einhändige kam hinzu, und gemeinsam zerrten sie Eve nach draußen zu dem Kreuz.
Sie wurde mit dem Gesicht gegen das kalte Holz gepresst. Eine Hand hielt sie fest im Nacken gepackt, während ihre Handgelenke trotz heftiger Gegenwehr in den Metallschellen an beiden Seiten des Querbalkens fixiert wurden. Das Kreuz roch tatsächlich nach altem Blut und menschlichem Schweiß.
Jetzt nur nicht übergeben , zwang sie sich selbst und bemühte sich, trotz der Anstrengung, die sie die Gegenwehr gekostet hatte, so flach wie möglich zu atmen.
Der Einhändige trat neben das Kreuz, sodass er ihr ins Gesicht sehen konnte. »Sagen Sie mir, wer und was er ist.«
»Ich weiß es nicht«, stieß sie hervor. »Ich weiß es doch nicht.«
Hatte Ben ihr deswegen nichts von sich erzählt? Hatte er geahnt, dass sie vielleicht in eine solche Situation geraten würde, und mit seinem Schweigen verhindert, dass sie irgendetwas über ihn verraten konnte?
»Er muss einer von ihnen sein«, sagte der Einhändige und deutete auf Margaret. Dann hielt er seinen Armstumpf. »Kein normaler Mensch hätte mich so leicht besiegt.«
Da verstand sie seinen Hass. Ben hatte ihn zum Krüppel gemacht. Hätte sonst er die Peitsche geschwungen? Hatte Ben ihm das genommen? Die Fähigkeit zu kämpfen und zu foltern?
Eve blickte ihm in die Augen und sah darin wilde Besessenheit. Unsterbliche zu bekämpfen war die Mission dieses Mannes, seine Berufung. Aber Ben zu jagen und zu vernichten war zu etwas Persönlichem geworden, sein ganz privater Rachefeldzug. Sie fühlte, dass dieser Mann die Welt aus den Angeln heben würde, um Ben für den Verlust seiner Hand bezahlen zu lassen. Der Sephirot war ihm egal geworden, ebenso wie seine »heilige« Pflicht dem Orden gegenüber. Er wollte Vergeltung.
»Wo ist er?«, schrie er sie an.
»Ich weiß es nicht!« Eve hatte das Gefühl, so wie Margaret zu ihrem eigenen Echo zu werden. »Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen? Ich habe keine beschissene Ahnung, wo er jetzt ist!«
»Sie wollen es nicht anders«, knurrte der Einhändige und machte zwei Schritte zurück.
Eve stellte sich so fest auf ihre Füße, wie es ihre Fesselung zuließ, um sich auf den ersten Schlag vorzubereiten, und biss die Zähne zusammen. Sie atmete so gleichmäßig und so tief wie sie nur konnte ein und aus, um die Adrenalinproduktion anzuregen. Es würde ihr gegen die Schmerzen helfen.
Sie hörte, wie sich der Mann hinter ihr in Position stellte und die Peitsche ausrollte. Sie schloss die Augen, um sich in einen meditativen Zustand zu versetzen.
»Wartet«, sagte der Bischof.
47
Das schnelle Atmen hatte Eves Adrenalinspiegel so schnell angehoben, dass
Weitere Kostenlose Bücher