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Die Lazarus-Formel

Die Lazarus-Formel

Titel: Die Lazarus-Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivo Pala
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Melodie vor sich hin zu summen.
    Eve ignorierte sie und stand auf, um sich in ihrer Zelle umzusehen. Es gab eine Pritsche mit Filzdecke und eine chemische Toilette, transportabel. Auf einem dreibeinigen Tisch standen ein Krug mit Wasser und ein Teller mit Brot, an dem sich gerade eine riesige Ratte zu schaffen machte. Eve unterdrückte einen Würgereiz.
    Der Raum vor der Zelle war eine niedrige Halle mit vielen kleinen Nischen, in denen alte Schädel und Knochen lagerten. Offenbar befand sie sich in einer Katakombe. Viel beunruhigender als die menschlichen Überreste war jedoch ein kreuzförmiges Gebälk im Zentrum des Raums. Rostige Eisenschellen waren daran angebracht, und es gab zahlreiche Löcher im Holz, umrahmt von dunklen, rostfarbenen Flecken. Blut.
    »Das ist meins-meins-meins«, sagte die Mädchenfrau. »Mein-Kreuz-mein-Kreuz-mein-Kreuz. Daran schlagen sie mich manchmal. O nein, sie geben nicht auf. Ich-ich-ich aber auch nicht. Aber das weißt du ja, nicht wahr?«
    »Sie schlagen dich ans Kreuz?«, fragte Eve schockiert. »Sie fesseln dich daran, meinst du.«
    »Nein-nein-nein«, sagte die Mädchenfrau. »Schlagen. Mit Nägeln. Nagel-nagel-nagel. Pock-pock-pock. Wie einstmals ihren Gott. Ihren Heiland. Ich bin nämlich auch eine Heilige, weißt du? Aber natürlich weißt du das. Was du nicht weißt, ist, wo sie ist. Das weiß nur ich. Aber ich werde es dir nicht verraten.«
    Eve wollte ihr erklären, dass sie sich irrte. Dass sie nicht wegen ihr hier war. Dass sie nicht einmal wusste, wieso sie selbst hier war. Doch da hörte sie sich nähernde Schritte.
    Die Mädchenfrau kicherte.
    »Wer ist das«, fragte Eve.
    »Die Jungs kommen zum Spielen.«

44
    Der alte Steinmetz schloss bei Sonnenaufgang seine Werkstatt auf. Er wollte seine kostbarsten Werkstücke einpacken und endlich und für immer von Sanxingdui fortgehen. Mit dem Diamanten, den Doktor Sinclair ihm für die Anfertigung der Sephirot-Kopie gegeben hatte, würde er sich zur Ruhe setzen können, irgendwo in einer kleinen Wohnung am Chinesischen Meer. Er hatte nicht vor, die Hüter davon in Kenntnis zu setzen – oder seine Frau. Dort würde ihn ganz bestimmt niemand finden.
    Er betrat seinen Laden, und sein Schritt war beschwingter als sonst, wenn er einen langen Tag vor sich hatte, denn endlich lagen die Jahre harter Arbeit hinter ihm. Endgültig. Ein für alle Mal.
    Vergnügt ging er an das erste Regal und begann, die Jadeschnitzereien in zwei große Taschen zu verpacken. Da erst merkte er, dass er beobachtet wurde. Jeder kennt dieses Kribbeln zwischen den Schulterblättern, das einem, auch ohne dass man jemanden sieht, sagt, dass hinter einem jemand ist und einen anschaut. Der Steinmetz war alt genug zu wissen, wie zuverlässig dieses Gefühl ist.
    Er stellte den kleinen Phönix, den er gerade in die Hand genommen hatte, wieder ab und drehte sich herum.
    Dann seufzte er. Es war ein tiefer und langer Seufzer. So wie man nun einmal seufzt, wenn man zum endlosesten Mal feststellen muss, dass schon wieder ein Plan, der so verlockend geklungen hatte, scheiterte. Im Leben des alten Mannes hatte es viele solcher Pläne gegeben. Und ebenso viele waren gescheitert.
    Vor ihm stand der große Fremde, dem Doktor Sinclair am vergangenen Tag den Jadetiger geschenkt hatte, um den wahren Grund ihres Besuches zu verschleiern. Der Fremde, vor dem die Hüter ihn ausdrücklich gewarnt hatten.
    Ganz anders als am vorigen Tag wirkte er an diesem Morgen ein wenig zerknautscht und abgerissen, so als hätte er die Nacht in der Gosse verbracht, aber der alte Steinmetz wusste, dass er trotzdem keine Chance gegen ihn hatte. Dennoch zog er sein kleines Jadeschnitzmesser mit sichelförmiger Klinge.
    Der Fremde betrachtete die winzige Waffe kurz und schaute dann wieder ihn an. »Wenn Sie das benutzen, werde ich Ihnen weh tun, nicht ganz so ehrwürdiger Vater«, sagte der große Mann ruhig und höflich in akzentfreiem Mandarin. »Aber ich habe nicht vor, Ihnen weh zu tun. Das müssen Sie mir glauben. Ich habe nur zwei Fragen an Sie.«
    Der Steinmetz dachte nach. Aber was gab es da schon zu überlegen? Wem wollte er etwas vormachen? Der Fremde hatte ihn bisher nicht getötet. Vielleicht meinte er, was er sagte. Er legte das Messer wieder weg.
    »Ich bin froh, einem wenn schon nicht vernünftigen, dann doch einsichtigen Mann gegenüberzustehen«, sagte der Fremde. »Lebt Doktor Sinclair noch?«
    Eifrig nickte der Steinmetz und sah, wie Erleichterung in das bisher finstere Gesicht

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