Die Lazarus-Formel
sie zu zittern begann. Der Bischof trat neben ihr ans Kreuz und stellte sich so, dass er ihr ins Gesicht sehen konnte.
»Das hier muss nicht geschehen, Doktor Sinclair«, sagte er im Ton eines verständnisvollen Priesters, und mit einem Mal war sein Blick ganz sanft, ja, mitfühlend.
»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, stimmte ihm Eve zu und versuchte, dabei nicht trotzig zu klingen. Was ihr allerdings misslang. Auch in dieser aussichtslosen Lage konnte sie sich nicht verstellen.
»Sie wissen nicht, was hier auf dem Spiel steht«, sagte er, wie an ihr Verständnis appellierend.
»Erleuchten Sie mich.«
»Das will ich gern tun«, entgegnete er ruhig. »Haben Sie schon einmal etwas von dem Buch Enoch gehört?«
»Das geht sie nichts an!«, mischte sich der Einarmige ungeduldig ein. »Sie weiß jetzt schon zu viel. Ein paar ordentliche Schläge mit der Peitsche, und sie wird ganz von selbst reden!«
»Schweigen Sie, Wall«, sagte der Bischof und wandte sich dann wieder Eve zu. »Also, kennen Sie das Buch Enoch?«
»Nein.« Eve hatte noch nie davon gehört.
»Das Buch Enoch ist die älteste apokryphe Schrift, die wir kennen«, erklärte er. »Es ist sehr, sehr viel älter als die Johannes-Offenbarung oder die Prophezeiungen des Daniel. Es ist sogar älter als die Bibel selbst. Wesentlich älter.«
»Okay, ich habe verstanden – es ist ziemlich alt«, schnaubte Eve. »Aber was hat es mit mir zu tun?«
»Das Wissen darin kann Ihnen unnötige Qualen ersparen«, behauptete der Bischof ruhig.
»Inwiefern?«
»Es würde Ihnen helfen zu verstehen«, sagte er. »Und wenn Sie erst einmal das gesamte Ausmaß dessen begreifen, worum es geht, werden Sie vielleicht ein wenig kooperativer.«
»Glauben Sie?«
Er zog ungehalten die Stirn in Falten und musterte sie. Dann entspannte sich seine Miene wieder. »Nun, Sie mögen uns vielleicht für besessene Dogmatiker halten oder für religiöse Fanatiker …«
»Nach allem, was ich bisher von Ihnen und Ihrem Orden weiß«, unterbrach sie ihn, »und nach Ihrem Auftritt im Kloster und dem, was Sie mit Anne getan haben …«
»Sehen Sie«, schnitt der Bischof ihr das Wort ab. »Sie halten uns für die Vertreter der Bösen.«
»Nein«, widersprach Eve.
»Nein?«
»Tatsächlich halte ich sie für die Bösen selbst.«
Der Bischof seufzte. »Ich schlage vor, Sie lassen mich ausreden und entscheiden dann.«
»Die Alternative wäre?«
Der Bischof deutete auf den Mann mit der Peitsche.
»In Ordnung«, sagte Eve. »Ich bin ganz Ohr.«
»Enoch war der Urgroßvater Noahs …«
»Dem Erbauer der Arche?«
Der Bischof runzelte die dichten Brauen wegen der erneuten Unterbrechung, nickte dann aber. »Ja, der mit der Arche. Das Buch Enoch beschreibt, wieso es überhaupt erst zur Sintflut kam. Und im Grunde genommen beschreibt es damit auch, warum wir heute hier sind und warum unser Orden tun muss, was er tut. Enoch erzählt, wie das Böse auf die Welt und zu den Menschen kam.«
»Lassen Sie mich raten«, sagte Eve zynisch. »Durch eine Frau, die sich die Freiheit genommen hat, in einen Apfel zu beißen.«
Der Bischof verzog wieder grimmig das Gesicht. »Nein, das Böse kam ausgerechnet aus dem Himmel selbst.«
»Luzifer?«, fragte Eve.
»Es ist nicht ganz so einfach. Nach dem Sündenfall beauftragte Gott zweihundert seiner besten und mächtigsten Engel damit, über die Erde zu wachen, damit Luzifer nicht noch mehr Unheil anrichtete, als er es schon tat, indem er Eva zum Essen des Apfels verführte. Die Anführer dieser Zweihundert waren Samyaza und Azâzêl. Ihnen und ihrer kleinen Armee war es möglich, menschliche Gestalt anzunehmen, um unerkannt unter den sich schnell und immer weiter vermehrenden Menschen zu wandeln. Etwas, das den Engeln seit der Sintflut verboten ist. Samyaza und Azâzêl fanden nämlich Gefallen an den Menschenfrauen und lagen ihnen bei, was, wenn man berücksichtigt, dass sie dabei ja selbst menschliche Gestalt hatten, eigentlich keine so große Sache ist und, soweit wir wissen, von Gott auch nicht ausdrücklich verboten war. Aber es passierte etwas völlig Unerwartetes: Die Menschenfrauen wurden schwanger von den Engeln …«
»Ich kenne die Geschichte von den Nephilim«, unterbrach Eve ihn ein weiteres Mal. »Die Kinder von Engeln und Menschen waren ganz furchtbar böse, und deshalb hat Gott die Sintflut geschickt und so weiter und so weiter und so weiter.«
Eve hörte Margaret in ihrer Zelle kichern.
»Hier geht es nicht um die Nephilim«, widersprach
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