Die Lazarus-Formel
Wirklichkeit zurück. So viele Schmerzen. Ihr Rücken brannte, als hätte jemand Säure darauf gegossen, und die Handgelenke fühlten sich an, als wären sie gebrochen. Vom Verkrampfen der Kiefer taten ihr die Zähne weh und die gesamte Gesichtsmuskulatur. Die Wimpern waren von ihren Tränen verklebt, und die Nase war verstopft. Und erst ihre Nieren … Es fühlte sich an, als würden Messer darin stecken.
Fast noch schmerzhafter war die Erkenntnis, dass Eve die Befreiung durch Ben und all das Wundervolle danach nur geträumt hatte und dass sie wieder auf dem Boden ihrer Zelle lag, direkt neben Margarets Gefängnis. Ein Stich ging ihr durchs Herz. Ein Stich, der mehr war als nur Enttäuschung darüber, noch immer gefangen zu sein. Eine dicke, heiße Träne kullerte ihr über die Wange.
Die zerzauste Mädchenfrau kauerte auf der anderen Seite des Gitters. Sie hatte die Haare aus dem Gesicht genommen und machte gar nicht mehr einen so wahnsinnigen Eindruck wie noch vor kurzem. Ganz im Gegenteil, sie wirkte ernsthaft und besorgt.
»Hier, trink das.« Durch das Gitter hindurch drückte sie Eve einen zerbeulten Emaillebecher mit lauwarmem Wasser gegen die trockenen und aufgerissenen Lippen. »Trink.«
Eve richtete sich stöhnend auf, trank und spürte fast augenblicklich die wohltuende Wirkung. Durch das Schwitzen hatte sie viel Flüssigkeit verloren, was ihren Körper nur umso empfänglicher machte für Schmerzen.
Als der Becher leer war, füllte Margaret ihn erneut aus einem Krug, der neben ihr auf dem Boden stand. »Trink.«
»Ich träume das nur, nicht wahr?«, sagte Eve gegen jede Hoffnung und trank auch den zweiten Becher leer.
Der Blick von Margarets Augen wurde traurig. »Das habe ich mir anfangs auch gesagt. Immer und immer wieder. Und danach sehr viel öfter, als ich noch zählen kann.« Sie deutete auf die gegenüberliegende Wand ihrer Zelle. Zahllose Striche in Fünferbündeln waren dort hineingekratzt.
Eves analytischer Verstand erfasste die Menge binnen weniger Atemzüge. Es waren fast zweitausend. Eve rechnete Tage in Jahre um. »Du bist schon über fünf Jahre hier?«
Margaret lachte auf. In dem Lachen lagen sowohl Spott als auch Amüsiertheit. »Das sind keine Tage, Schätzchen. Das sind Monate.«
Eves Augen weiteten sich schockiert, und sie sah Margaret fassungslos an. Einen Moment lang vergaß sie sogar die mörderischen Schmerzen auf ihrem Rücken. »Monate?«
Margaret nickte. »Eintausendneunhundertzwanzig Monate.«
»Verdammt …« Das war alles, was Eve im ersten Moment dazu einfiel, während sie zu verstehen begann. Einhundertsechzig Jahre in einer winzigen Zelle in den Katakomben dieser Bestien .
» Verdammt trifft es ziemlich genau«, sagte Margaret, und es klang sogar ein wenig belustigt. »Wie den Nagel auf den Kopf. Ja, einhundertsechzig Jahre. Beinahe ein Fünftel meines Lebens.«
»Dann bist du eine der Aesirianer?«
Margaret legte den Kopf schräg und schüttelte ihn dann. »Nein-nein. Kein Aesirianer. Das denken die Jungs vom Orden auch, aber das stimmt nicht. Und ich sage ihnen das natürlich auch schon seit Ewigkeiten. Aber wie sie nun mal sind, wollen sie mir einfach nicht glauben. Wie du ja selbst schon gemerkt hast, sind sie an Fakten nicht sonderlich interessiert. Die könnten ja alles auf den Kopf stellen, was sie zu wissen glauben. Nein, nein, Fakten wollen die hier nicht.«
»Aber du bist unsterblich?«
»Das weiß ich noch nicht genau«, sagte Margaret. »Aber ich lebe schon ziemlich lange, oder?«
»Und keine der Aesirianer?«
»Nein. Sagte ich doch schon.«
»Wer bist du dann?«
»Ich? Ich bin eine Heilige.«
Kam der Wahnsinn der Mädchenfrau wieder durch? Eves Augenbrauen wanderten skeptisch nach oben, während sie auf eine Erklärung wartete.
»Im Ernst«, sagte Margaret. »Hast du noch nie von der heiligen Margaret gehört?«
»Du meinst St. Margaret von Schottland?«
Das schmutzige Gesicht der Mädchenfrau hellte sich auf. »Man kennt mich also noch?«
»Du nimmst mich auf den Arm.«
»Schätzchen, was hätte ich davon?«
»Keine Ahnung. Abwechslung?«
»O ja, Abwechslung wäre toll. Aber nein, ich bin es wirklich«, sagte sie so ernst und ruhig, dass Eve ihr glaubte. »Margaret, Tochter von Edward, Schwester von Edgar Ætheling, dem letzten angelsächsischen König von England, und Frau von Malcolm III., König von Schottland. Geboren im Jahr des Herrn 1045 auf Burg Réka in Baranya, Ungarn, im Exil meines Vaters.« Sie lächelte verschmitzt.
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