Die Lebküchnerin
Und warum sollte ich mich hüten, einem Menschen zu begegnen? Euer Knecht richtete mir aus, ich solle mich zu Euch schleichen. Das Pferd draußen vor dem Tor anbinden. Und im Hof liegen zwei fremde, bewaffnete Kerle und schnarchen, dass es einem angst und bange wird. Was hat das alles zu bedeuten?«
Seine Stimme war vor Aufregung ganz laut geworden.
Leonore aber legte den Finger auf ihren Mund zum Zeichen, dass er schweigen und näher kommen solle.
Als er so dicht bei ihr stand, dass sie einander berührten, flüsterte Leonore ihm beschwörend ins Ohr: »Julian, es ist etwas Schreckliches geschehen. Der Provinzial beschuldigt Schwester Benedicta und dich, euch versündigt zu haben …«
»Aber …«, versuchte sich der Fechtmeister zu verteidigen, doch seine Tante fauchte: »Sag nichts, was du bereuen könntest! Eine Schwester hat gesehen, dass ihr euch umarmt und geküsst habt. Und wer weiß, wie weit ihr diese Unzucht getrieben habt. Ich will es gar nicht wissen. Ich befürchte das Schlimmste! Versuch ja nicht zu leugnen. Schwester Walburga wird alles daransetzen, dass der Provinzial Benedicta schwer bestraft, wenn nicht gar töten lässt. Und dich gleich mit!«
»O Gott, das habe ich nicht gewollt!«, entfuhr es Julian entsetzt.
»Deine Einsicht kommt zu spät, und deshalb gibt es nur eine Möglichkeit. Du liebst sie doch, oder?«
Julian nickte und sah seine Tante fragend an.
»Dann heirate sie und zieh weit fort mit ihr. In Nürnberg bist du nicht sicher, denn bis dorthin reicht der Arm des Provinzials. Er wird alles tun, damit diese Schande nicht ruchbar wird. Geht so weit fort, wie ihr könnt. Fechtmeister werden schließlich überall gesucht. Oder flüchtet euch auf die Burg Ehrenreit. Dort wagt sich keiner hin.«
»Aber … aber wie soll ich denn … ich meine, sie ist doch hier eingesperrt …«, stammelte Julian und wurde dabei so blass wie die gekalkte Wand hinter ihm. »Ich habe doch inzwischen nach Eurem Befehl gehandelt und einer … ich kann doch nicht einfach … ich meine, wie stellt Ihr Euch das vor?« Er wirkte gequält und rang nach Luft.
Leonore stöhnte laut auf.
»Verstehst du nicht, was ich dir sagen will? Man trachtet dir nach dem Leben. Sobald der Provinzial Walburga angehört hat, wird er dir das Angebot machen, gemeinsam mit Benedicta zu fliehen. Und dann wird er euch meucheln … Dazu darf es nicht kommen. Mein Junge, warum habe ich dich wohl bei Nacht herkommen lassen? Weil du im Schutz der Dunkelheit mit ihr fliehen wirst, und zwar heute noch. Hast du verstanden?«
»Aber was ist mir Euch? Ihr seid die Priorin …«
Leonore sah ihn entgeistert an. »Das soll allein meine Sorge sein, aber was ist mit dir? Warum zögerst du? Wir haben keine Zeit zu verlieren. Der Provinzial will an euch ein Exempel statuieren, und er wird vor nichts zurückschrecken, um Engelthal zu einem Musterbeispiel klösterlichen Lebens zu machen.«
»Und was werdet Ihr tun?«, wiederholte der Fechtmeister, als begreife er die Dringlichkeit der Lage noch immer nicht.
»Ich weiß natürlich von nichts und werde empört sein über meinen Neffen und diese Schwester, die ihr Gelübde bricht und sich dann bei Nacht und Nebel davonmacht«, erwiderte Leonore unwirsch und sah ihren Neffen verärgert an. »Junge, begreifst du nicht, was ich dir sage? Ihr müsst das Kloster verlassen, und zwar schnell!«
»Aber, aber …«, stammelte Julian und verfiel in düsteres Schweigen.
Leonore funkelte ihn zornig an, trat einen Schritt auf ihn zu und schüttelte ihn, der mit leerem Blick durch sie hindurchzusehen schien.
»Julian, mein Junge! Was ist mit dir geschehen? Ich dachte, du liebst sie und wünschst dir nichts sehnlicher, als sie zur Frau zu nehmen. Habe ich mich getäuscht? War das alles nur Spielerei? Aber geküsst hast du sie doch? Ja oder nein? Gib es zu!«
»Und weiß sie es schon?«, fragte Julian, statt ihr zu antworten.
Leonore schüttelte den Kopf. »Nein, sie weiß gar nichts. Auch nicht, in welcher Gefahr sie schwebt. Sie backt zufrieden ihre Lebkuchen und ahnt nicht, dass man sie entweder in ein Kloster im Norden bringen will, dessen Mauern dicker sind als diese, oder dass man sie, was ich viel mehr befürchte, gar auf der Flucht vom Pfeil einer Armbrust niederstrecken lassen wird.«
»Ich eile zu ihr und hole sie«, erklärte der Fechtmeister scheinbar entschlossen, aber in seinem Gesicht stand der Zweifel geschrieben, als er sich auf dem Absatz umdrehte.
Energisch hielt ihn Leonore am Mantel
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