Die leere Wiege: Roman (German Edition)
auf Emma gestoßen war, und ließ in dem kleinen Spezialladen dort einen Zweitschlüssel machen. Ungeduldig sah ich zu, wie der Angestellte den Schlüssel exakt nach dem Vorbild ausfräste. Aus dem Angebot der Schlüsselanhänger wählte ich einen, auf den der Spruch »Zuhause ist da, wo dein Herz ist« graviert worden war.
Niemand durfte den Originalschlüssel vermissen, deshalb rief ich Emma schon am nächsten Morgen an.
»Mein Gott«, sagte sie, als ich mich mit zittriger Stimme meldete. »Du hörst dich ja schrecklich an. Was ist denn passiert?«
»Ich wollte dich um einen Gefallen bitten, Emma. Aber wenn du es nicht tun möchtest, musst du es …« Ich ließ meine Stimme verklingen.
»Sag schon, worum es geht, ich tue, was ich kann.«
Ich schwieg einen Moment, ehe ich leise sagte: »Heute vor drei Monaten ist Joel gestorben.«
»O Rose, bitte verzeih mir, aber das hatte ich total vergessen.« Sie klang aufrichtig bestürzt, und dennoch lag so etwas wie Erleichterung in ihrer Stimme, darüber, dass ich litt und nicht sie.
»Ich möchte sein Grab besuchen, aber ich weiß nicht, ob ich das allein schaffe.« Ich machte eine Pause. »Würdest du vielleicht mit mir kommen?«
Konnte sie mir diesen Wunsch versagen? Nein, konnte sie nicht. »Natürlich. Wann sollen wir uns treffen?«
Eine Viertelstunde nach unserem Telefonat saß ich im Wagen am Ende ihrer Straße und beobachtete im Rückspiegel, wie sie mit dem Auto aus der Einfahrt zurücksetzte. Mein Plan war, nach ihr auf dem Friedhof anzukommen und mich damit zu entschuldigen, dass ich erst noch hatte Kraft sammeln müssen, ehe ich in der Lage war, zu Joels Grab aufzubrechen.
Nachdem Emma verschwunden war, schlüpfte ich aus dem Wagen und schlich geduckt wie eine Katze über die Straße zurück zu dem Seitenpfad, der zur Hintertür des Hauses führte. Mit klopfendem Herzen hielt ich die beiden Schlüssel umklammert. Mir fiel wieder ein, wie ich mir unter der Daunendecke meiner Mutter früher ein Häuschen gebaut hatte, ein sicheres kleines Nest, in dem ich mich verstecken konnte. Jetzt war Emmas Haus zu diesem Nest für mich geworden. Es war ein merkwürdiges Gefühl, das mich in diesem Augenblick übermannte, als wäre mein Leben nach Joels Tod außer Kontrolle geraten und ich wäre gerade dabei, wieder Halt zu finden.
Ich schaute mich nach allen Seiten um, ehe ich meinen Schlüssel ins Schloss steckte und vorsichtig drehte. Als die Tür mit einem Klicken aufsprang, kam es mir wie ein Zeichen des Himmels vor – oder wenn nicht des Himmels, dann eines ähnlichen Orts. Blitzschnell war ich in der Küche, hängte Emmas Schlüssel an den Haken und steckte meinen in die Hosentasche. Ab sofort musste Emma ihr Haus mit mir teilen. An dem Punkt hätte ich kehrtmachen und zum Friedhof fahren müssen, aber dazu war mein Wunsch, weiter vorzudringen, einfach zu groß.
Ich durchquerte die Küche zum Flur, ließ die Treppe links liegen und betrat ein Zimmer, das zur Straße hinausging. Bisher war ich nur einmal ganz kurz darin gewesen, denn wenn ich da war, benutzte Emma es nicht. Es war ein Zimmer für Erwachsene, in dem nirgends Spielsachen lagen. An der Rückwand stand ein schweres Bücherregal, darin Buchrücken in allen möglichen Farben. Auf den freien Plätzen befand sich Zierrat, Matroschka-Puppen und ein chinesisch aussehender Fächer, doch mein Blick wurde von den Buchrücken angezogen, mit Namen von Autoren darauf, die mir größtenteils unbekannt waren. Ich fragte mich, ob Dominic diese Bücher zum Vergnügen las, denn es mussten seine sein, schließlich war er Lehrer. Auch einige Bände über Ballett standen in einer Ecke, die vermutlich noch aus Emmas Studienzeit stammten, damals, als du sie kennengelernt hattest. Dass ich dich nach ihr für mich hatte gewinnen können, betrachtete ich nach Joels Geburt als meine größte Leistung.
Dann entdeckte ich etwas, das mich interessierte. Es waren Fotoalben, eine ganze Regalreihe stand voll davon, jedes mit einer Jahreszahl auf dem Rücken. Ich zog eines der jüngsten hervor und las das Schildchen auf dem Deckel. »Lukes erstes Jahr« stand darauf. Es war erst halb voll mit Fotos. Die leeren Seiten warteten noch auf das, was einmal zu Erinnerungen werden würde.
Begierig blätterte ich durch die Seiten und betrachtete die Fotos von Emma. Auf einem war sie hochschwanger, trug ein Cocktailkleid und hielt eine Sektflöte in der Hand. Ich nahm an, dass es an Silvester aufgenommen worden war. Ich schlug
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