Die leere Wiege: Roman (German Edition)
die Seite um, und mein Herz fing an, schneller zu schlagen. Da war Luke, gleich nach der Geburt in seinem Krankenhausbettchen. Auf den nächsten Seiten wurde er beständig größer und dicker. Dann stieß ich auf eins, auf dem er vielleicht sechs Wochen alt war, mit rotgoldenen Löckchen und einem Lächeln, das für immer festgehalten worden war. Ich zupfte es ab und schob es behutsam und ohne es zu knicken in meine Hosentasche.
Dann erinnerte ich mich an die Aufnahmen von eurer Hochzeit, die in der Kommodenschublade mit der Unterwäsche versteckt lagen, und überlegte, welche Andenken an diesen Tag sie vielleicht sonst noch aufgehoben hatte. Ich war wie ein Hund, der eine Spur verfolgt.
Gleich darauf lief ich über den oberen Flur und betrat das Gästezimmer.
In dem Raum hatten Emma und ich Lukes ausrangierte Babykleidung untergebracht und später Emmas Schwangerschaftsgarderobe, die sie sorgsam in einem Schrank verstaut hatte, für den Fall, dass sie noch ein Baby bekam. Um an das oberste Schrankfach zu gelangen, stieg ich auf einen Stuhl und überschlug die Zeit, die ich noch zur Verfügung hatte. Emma war vermutlich gerade dabei, Luke vom Kindersitz des Wagens in seinen Buggy zu verfrachten. Demnach musste ich mich sputen.
In dem Fach entdeckte ich einige Pappschachteln mit Weihnachtsschmuck und einen kleinen Koffer. Doch dahinter lag ein weißer Karton, und ich war sicher, dass er enthielt, wonach ich suchte. Am liebsten hätte ich ihn einfach herausgezerrt, aber ich musste vorsichtig sein und durfte nichts durcheinanderbringen. Behutsam langte ich unter einen Berg Lametta, holte den Karton hervor und stieg wieder von dem Stuhl hinunter.
Auf dem Fußboden hob ich den Deckel ab, doch in meiner Aufregung zerriss ich dabei das Seidenpapier, das den Inhalt verhüllte.
Meine Hände ertasteten reine Seide. Ich schlug das Papier zur Seite und sah etwas Glänzendweißes. Emmas Hochzeitskleid. Das Kleid, das sie auf dem Foto anhatte, auf dem ihr beide abgebildet wart.
Im Nu streifte ich Jeans und Pullover ab und trug nur noch meine Unterhose und das rote Mieder, das ich an dem Tag angelegt hatte. Ich nahm das weiße Kleid heraus, spürte die schwere Seide, zog den Reißverschluss auf und schlüpfte hinein. Ein weißes Seidenmeer umhüllte mich, aber die Ärmel waren zu eng, sodass ich Mühe hatte, das Oberteil richtig hochzuziehen. Über meiner Brust spannte sich der Stoff, und der Reißverschluss musste offen bleiben. Ich hob den Rock an und trippelte in Richtung Schlafzimmer, wo ein großer Spiegel stand.
Auf dem Weg dorthin stellte ich mir vor, eine Braut zu sein, gemessenen Schrittes das Kirchenschiff zu durchqueren und anmutig nach links und rechts zu lächeln. Mit dem roten Mieder und dem weißen Kleid darüber fühlte ich mich wie eine liebliche angehende Ehefrau. Ich betrat das Schlafzimmer und schaute in den Spiegel. Ich sah grässlich aus. Das Kleid war viel zu eng, das Oberteil zu schmal geschnitten, und das Weiß stand mir nicht. Ich war käsebleich und wirkte grobknochig, meine Augen waren unnatürlich groß, die Haare lang und strähnig – eine Vogelscheuche, der man ein Brautkleid übergezogen hatte. Mit einem Aufschrei zerrte ich mir das Kleid über den Kopf und schleuderte es auf den Boden.
Im nächsten Moment hatte ich den Schlüssel aus der Tasche gezogen und fiel wie eine Wilde über das Kleid her. Ratsch, ratsch, ratsch zerfetzte ich die Seide und mit ihr Emmas Vergangenheit sowie meine Gegenwart mit demselben Mann.
Nach einer Weile kehrte ich schwer atmend in das Gästezimmer zurück und faltete das zerrissene Kleid wieder ordentlich zusammen, legte Ärmel auf Ärmel, glättete den Rock, so gut es ging, packte alles zurück und schlug es in das Seidenpapier ein. Dann stieg ich auf den Stuhl und verstaute den Karton hinten in dem Fach unter dem Lametta.
42.
Joels Grab lag im neueren Teil des Friedhofs. Es war ein einfacher Erdhügel mit einem schlichten Stein, der auf schmerzhafte Weise immer noch frisch wirkte. Nur die Blumen darauf waren vertrocknet, denn ich ertrug es nur selten, dorthin zu gehen.
Emma entdeckte mich, ließ den Buggy los und kam mir entgegen. Ihr Gesicht war verquollen, und sie betupfte ihre Augen mit einem Papiertaschentuch. Als sie bei mir war, schloss sie mich in die Arme. Ich wollte nicht, dass sie weinte, denn das machte mich bloß wütend. Sie hatte kein Recht, Tränen zu vergießen.
Seitdem ich ihr Hochzeitskleid zerrissen hatte, war mein Herz in
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