Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
nach Spuren der Weißhäutigen zu suchen. Auch Randur fragte sich, wo sie geblieben sein mochten, sah dann aber auf. »Bei Bohr … «, hauchte er, und Eir krümmte sich von ihm weg, um seinem Blick zu folgen.
Im Licht der Fackel waren viele Oberflächen aus Gold, Silber, Kupfer und Messing zu sehen: Hunderte Münzen und Ornamente, Armreife, Ringe und Halsbänder. Der Schatz war riesig und zog sich wie ein Geldstrand hin. Weiter unten verschwand er in einem tiefen Teich, wo Rostspuren an eisernen Beschlägen den jahrhundertelangen Verfall bezeugten.
Randur hob Eir vom Boden auf, und sie gingen langsam und ehrfürchtig um den Schatz herum.
Munio kauerte sich ächzend nieder, um ein paar Münzen näher zu untersuchen, und bat Rika, die Fackel zu senken. »Einige davon … sind auf jeden Fall sehr alt und stammen noch aus der Zeit vor den Kaisern Gulion und Haldun. Seht, hier ist sogar Goltangs Bildnis drauf! Nein, so einen … Reichtum hab ich noch nie gesehen«, murmelte er.
»Mein Collier«, flüsterte Eir und betastete ihren Hals. »Es ist weg. Das müssen sie gestohlen haben.«
»Womöglich haben sie dich sogar nur wegen des Halsbands mitgenommen«, überlegte Randur. »Anscheinend schaffen diese Leute all die Herrlichkeiten seit Jahrhunderten hierher, ohne dass jemand von ihnen weiß.«
»Seit Jahrtausenden!« In Rikas Fackellicht untersuchte Munio eine weitere Münze. »Die ist aus der Azimuth-Zeit.«
Randur bemerkte, wie der Alte heimlich Schmuckstücke in seine Taschen schob, war aber klug genug, dies nicht zu beanstanden.
Es schien unwirklich, dass eine ganze Gemeinschaft der Sammelwut verfallen war und wie Elstern alles Glitzernde an sich raffte. Wann mochten sie die Erdoberfläche verlassen und sich zu den geisterhaften Gestalten entwickelt haben, die das Pferd abgeschlachtet hatten?
»Seht euch die Zeichen an den Wänden an!« Rika hielt die Fackel näher an den bleichen, hier deutlich geglätteten Fels. »Das sind Symbole oder Gleichungen. Ich habe mich nicht näher damit befasst, doch ich glaube, hier handelt es sich um die Máthema-Sprache.«
Die zerklüfteten Linien waren in überraschend grellen Farben gehalten, in Gelb und Rot, und stammten doch aus einer mehrere Jahrzehntausende alten Kultur. Dieser Gedanke erschien absurd, da die Schrift ganz frisch wirkte.
»Vektoren«, flüsterte Rika. »Geometrische Strukturen. Algebra. Integralrechnung – aber die Graffiti ringsum wirken dennoch wie … «
»… das Gekritzel von Wahnsinnigen«, murmelte Randur und betrachtete die zerklüfteten Symbolreihen. Langsam nahm eine Zeichenfolge immer bestimmendere Gestalt an:
H ∑ f √ ∏ ∫
Das sah für Randur wie » HELFT UNS « aus, und er war nicht weiter erstaunt, dass sie über all der Mathematik verrückt geworden waren …
»Das also ist dieser bedeutenden Zivilisation letztlich widerfahren?«, überlegte Eir. »Ich dachte immer, Missernten hätten sie ausgelöscht. Die Leute konnten doch nicht einfach im Untergrund verschwinden, wenn sie nach Schätzen jagten!«
In der Nähe war etwas zu hören, ein Einatmen, und Randur spähte zu den dunklen Ausgängen. Paarweise glommen schwachblaue Kugeln auf, erst vier, dann acht, dann sechzehn und immer so fort.
»Die greifen uns nicht an – jedenfalls nicht, solange wir die Fackel haben.« Randur warf Rika einen Blick zu, als wollte er fragen: Wie lange wird die vorhalten?
»Ich habe jede Menge Schwefel, Kalk und Streichhölzer dabei, falls sie ausgeht«, erwiderte sie. »Wir sind ziemlich sicher.«
Sie schauten sich wieder Schatz und Schriftzeichen an und untersuchten ihre Entdeckungen und die nähere Umgebung eine Zeit lang unabhängig voneinander.
Plötzlich erklang ein fernes, unheimliches Heulen, eine Art abgebrochene Beschwörung. Die vier blickten sich an und machten sich auf einen Kampf gefasst, aber nichts geschah. Doch es lag eine Spannung in der Luft, als hätte jemand ein Relikt aktiviert. Geräusche schwollen abnorm an und ab, und Stimmen kamen beunruhigend aus dem Dunkel. Und ihre eigenen Schritte klangen plötzlich ganz leise.
Dann war ein metallisches Klirren zu hören.
Münzen hüpften über den Boden, rollten durcheinander, sprangen ins Wasser und sammelten sich wie von selbst, um eine Gestalt zu bilden.
Sie stapelten sich zu einem Rumpf, zu Armen und Beinen, die sich sodann aus dem Spiegelteich erhoben. Auf dem etwas undeutlichen Kopf trug die Figur eine arg ramponierte Krone.
Ein Münzgolem?
Die vier hetzten die Treppe
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