Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
ich Euch aber schwer dankbar«, flötete die männliche Banshee und weckte damit in Brynd liebevolle Erinnerungen an Kym, einen Bekannten aus Villjamur.
»Was schlagt Ihr vor?«, fragte Nelum. »Um Fortschritte zu machen, meine ich? Schade, dass dieses Spinnenwesen nicht auf unserer Seite ist. Ich hab gelesen, Seide hat früher zum Verbinden von Gefechtswunden gedient. Es bewirkt keine allergischen Reaktionen und verhält sich ganz neutral.«
»Eins sag ich euch«, meinte Jeryd. »Sollte einer der Soldaten lange genug gelebt haben, um zu sehen, welches Ungetüm dieses Zeug produziert« – er wies auf die vielen Spinnweben – , »ist er womöglich an Ort und Stelle vor Angst gestorben. Mir jedenfalls wäre es so ergangen … «
»Aber wenn diese Seide Leben retten kann –«, beharrte Nelum.
»Im Moment rettet dieses Wesen gar nichts«, unterbrach ihn Brynd. »Es raubt Soldaten von der Straße, wertvolle Männer, die wir in der Schlacht brauchen.«
»Die eigentliche Frage ist doch: Warum? «, stellte Nelum fest.
»Stimmt«, pflichtete Jeryd ihm bei. »Die Inquisition könnte mehr Leute von Eurer Art brauchen. Warum also bringt dieses abnorm riesige Geschöpf primär Soldaten zur Strecke? Könnte es etwas mit den fremdartigen Wesen zu tun haben, die von Norden her ins Kaiserreich eindringen?«
»Keine Ahnung.« Brynd hatte den Eindruck, letzthin mit zu vielem zu tun zu haben, von dem er zu wenig wusste. »Das könnte durchaus sein, weil wir nicht mal wissen, wer unser Feind eigentlich ist. Aber es wurden nicht nur Soldaten verschleppt, auch Zivilisten.«
»Das dürfen wir nicht vergessen«, bestätigte Jeryd. »Es ist kein ausschließlich auf die Armee zielender Angriff. Und trotz regelmäßiger Patrouillen haben Eure Soldaten nie Vergleichbares beobachtet, nicht wahr?«
Keiner von Brynds Männern hatte von Kontrollgängen durch die Stadt Ähnliches zu berichten gehabt. Vielleicht fürchteten sie ja, für wahnsinnig gehalten zu werden? Der Kommandeur schüttelte missmutig den Kopf.
»Sieht so aus, als hätten wir es mit einem verflucht gerissenen Killer zu tun«, brummte Jeryd.
Die Straßen begannen sich zu beleben, da der Morgen aufzog. Karren rumpelten zu den Basaren, Fiaker brachten Fahrgäste durch die Stadt. Maskierte Passanten drehten sich mit ihren auf komisch getrimmten Mienen nach der kleinen Gruppe um.
Jeryd ging in den anschließenden Gassen auf und ab.
Fünf Minuten später hörte Brynd, wie er ihn rief.
Die Nachtgardisten rannten los, um nachzusehen. Jeryd kauerte bei einem Müllhaufen und wies auf eine nahe Mauer.
Ein verstümmelter Mann lag verkrümmt in seinem Blut. Ratten und Trilobiten hatten sich an der Leiche gütlich getan, doch noch war zu erkennen, dass er mit grausamer Gewalt aufgeschlitzt worden war. Brynd genügte es, die in Fetzen gerissene Uniform des Dragoners zu sehen.
Jeryd mochte Doktor Machaon erheblich lieber als Doktor Tarr, der noch immer in einer dunklen Ecke Villjamurs residierte. Er war Tarr nur selten begegnet, doch sich seine Grübeleien über den Tod anzuhören, hatte ihn stets ungemein deprimiert. Doktor Machaon dagegen schien sich über den Fall, der nun vor ihm lag, geradezu zu freuen. Der Mediziner war etwa vierzig, hatte rötliche Wangen und einen solchen Wanst, dass Jeryd sich in seiner Gegenwart schlank vorkam und ihn sofort sympathisch fand.
»Welch exotische Wunden!«, frohlockte Machaon. »Dieser arme Kerl hat ein hübsch grausames Ende genommen.«
Machaons Reich lag in der Altstadt, aber nicht zu nah bei den Bistros, damit die Versuchung seine Arbeit nicht störte. Die Onyxflügel waren von seinem nach Westen weisenden Fenster prächtig zu sehen. Eine Reihe farbiger Laternen und Fackeln erhellte den Raum noch weiter. An den Wänden hingen Schaubilder, und in den Regalen standen so viele Flaschen, dass sie von den Brettern zu fallen drohten. Auf einem Tablett lagen lauter Meißel, Skalpelle und Sägen, und mitten im Zimmer befand sich unter einer Lampe ein Tisch mit dem Opfer darauf.
Machaon hatte die Gelenke der Leiche bereits gebeugt und nach Hautabschürfungen und Blutergüssen gefahndet. Nun suche er Leichenflecken, erklärte er und trug etwas in das Notizbuch ein, das neben ihm lag.
»Der wurde garantiert ermordet«, sagte Jeryd, um den Arzt zu einer Einschätzung zu bewegen und nicht länger lyrisch über die Art der Wunden zu salbadern.
Machaon öffnete ein kleines Glas und streute ein wenig blaues Pulver auf einen weißen Teller. Dann
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