Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
geprägter Ort, und der beißende Gestank von den Fischerbooten hatte Voland nur umso mehr für die abgelegene Siedlung begeistert.
Nanzi hatte hilflos im Nieselregen gelegen und ihm keuchend vor Schmerz erklärt, die Blume in ihrer Hand sei für ihre Mutter. Wie hätte er sich nicht in sie verlieben sollen? Fischer und Hafenarbeiter hatten ihm geholfen, das Mauerwerk, das aus Altersschwäche nachgegeben hatte, von ihren Beinen zu räumen.
Als sie ihre zerschmetterten Beine untersuchten, stieß sie furchtbare Schreie aus.
Doch dann sagte er ihr, er könne ihr helfen.
Voland war eine Legende des ärztlichen Untergrunds und hatte sogar mehrere Jahre beim großen Doktor Tarr in Villjamur gelernt, bevor ihre Meinungsverschiedenheiten in ethischen Dingen ans Licht gekommen waren. Doch Tarr hatte nie Volands Fähigkeit besessen, in dieser alltäglichen Welt andere Kräfte einzusetzen.
Kultist war Voland sicher nicht, und er misstraute jedem Relikt. Die Leute schienen sich zwar nach den alten Kulturen zu sehnen und das Gefühl zu haben, damals sei alles besser gewesen, doch Voland hatte mehrfach Kultisten dabei beobachtet, diese Überbleibsel alter Technologie für ruchlose Zwecke zu manipulieren. Für ihn lag in solchen Untaten, solchem Missbrauch nichts Großes, und darum hatte er beschlossen, sein Augenmerk ganz auf die Entwicklung der Zukunft zu richten. Und so sah er die Welt noch immer.
In seiner Jugend hatte er sich um eine junge Sterbende vom Orden der Natur gekümmert, eine einsame Arbeiterin und Insektensammlerin, wie sie ihm versicherte. Während sie auf seinem Operationstisch verblutete, vertraute sie ihm den Wunsch an, jemand möge ihre Vorhaben fortführen, womöglich gar der rätselhafte junge Arzt, der sich alle Mühe gab, sie zusammenzuflicken. Sie starb jedoch, und ihrer Bitte getreu sah er ihre Habseligkeiten durch.
Durch das Studium ihres Tagebuchs erlernte er die Kunst der Kultisten sehr rasch.
Bald widmete er sich unablässig seinen Forschungen und fand heraus, wie man Leuten Insektenteile einpflanzen konnte. Das war keine exakte Wissenschaft. Wenn purpurne Funken durch die Luft flogen und sich zu Netzen verbanden, um zwei organische Oberflächen zu unnatürlichen Einheiten zu verschmelzen, wusste er nicht, wie das gelang, sah aber, dass es klappte. Und dass es wirklich war.
Als er Nanzi im Hafen entdeckte, stand sein Können im Zenit. Er warnte sie vor den Gefahren und dem Ungefähren der von ihm praktizierten Wissenschaft, doch sie starrte bloß auf die Stümpfe, die ihre Beine gewesen waren, und nahm sein Angebot an.
So hatte er die Gebrochene wiederaufgebaut.
Erst blutete sie überall, und Voland fürchtete schon, sie werde auf dem Operationstisch sterben. Sechzehn Stunden lang hatte er gearbeitet, erst die zerschmetterten Reste ihrer Beine mit chirurgis cher Präzision entfernt, dann die ursprünglich von einer Spinne stammenden Beine mit ihren Stümpfen verbunden und entsprechend ihren Proportionen geformt. Zwei Operationen waren nötig, ehe die neuen Beine richtig an den Stümpfen saßen. Sechzehn weitere Stunden hatte er dafür gebraucht, dass alles Gewebe, alle Sehnen und Knochen richtig passten, und um dafür zu sorgen, dass ihr Körper die neuen Gliedmaßen nicht abstieß. Mithilfe der Phonoi hatte er seine Kunst gründlic h, sorgsam un d liebevoll auf seine neue Patientin angewandt.
Im milchigen Frühlicht hatte er ihr Aufwachen erwartet und lange Minuten mit an die Wand gelehntem Arm dagesessen, während die Wärme des neuen Tages etwas Elementares in ihm aufrührte.
Und doch hatte Erschöpfung ihn überwältigt, als hätte er seine ganze Seele in ihre Wiederherstellung gesteckt.
Eine Traurigkeit trat in seine Miene, dann weitere Sorge, doch … langsam bewegten sich ihre Finger, dank der Macht der alten Gattung der Dawnir, die angeblich eine viel bessere Technologie besessen hatten als die heute bekannte! Ehrfürchtig besah er sich, was er geleistet hatte, indem es ihm gelungen war, durch Jahrzehntausende eine Verbindung zu diesen großen Geistern herzustellen.
Als Nanzi das Bewusstsein wiedererlangte, begann sie zu weinen.
Zunächst fieberte sie und weinte tagelang vor Schmerz. Voland war entsetzt. Er hatte geglaubt, ihre Beweglichkeit verbessert zu haben, und unsinnigerweise angenommen, sie würde darüber sofort frohlocken. Wie konnte er so naiv sein? Während sie langsam gesundete, entfernte er Blut, Schleim, Haut, Gewebe und Haare aus dem Operationssaal und schrubbte
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