Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
es?«
»Nein, Doktor, nein. Der Himmel ist wolkenlos, als wollte die Eiszeit sich verabschieden.«
Und das wäre plausibel gewesen. Voland, seit je ein Pragmatiker, konnte die Eiszeit nicht akzeptieren; sie war ein seltsames Phänomen, das ihm nicht behagte. Mitunter gab es eine warme Luftströmung, die ihm natürlicher erschien, als müsste das Wetter eigentlich immer so sein. Doch kurz darauf wehte wieder ein eisiger Wind.
»Mögt ihr mir mit den beiden Neuanlieferungen helfen?«, fragte er. »Nanzi hat sie gestern Abend gebracht.«
»Aber ja, Doktor Voland, aber ja!« Die Phonoi nahmen im Dunkel, in das von draußen bloß ein schwacher Lichtschein fiel, nur vage Umrisse an, doch die Helligkeit genügte, um ihre Gestalt und Struktur erahnen zu lassen. Nun stürzten sie sich wie geisterhafte Kinder auf die Leichen – einen Mann und eine Frau – , wickelten sie aus Nanzis Seide und trugen sie auf eine Weise, die einen weniger aufmerksamen Beobachter hätte vermuten lassen, sie würden durchs Zimmer schweben.
Die Phonoi ließen die Leichen immer schneller kreisen und brachten mit ihrer Energie zugleich das Wasser im Kessel zum Kochen. Beide Kadaver wurden ins brodelnde Nass geworfen und gleich wieder herausgezogen, während Voland an der Wand einige Messer aussuchte. Dann wurden die Leichen an die Decke gehängt, und er entfernte die Haut, nahm Organe und Gedärme heraus und suchte die besten Fleischstücke aus. Der gefährlichste Schnitt war der erste durch die Brust und weiter abwärts, denn wer dabei nicht aufpasste, dem konnte das Messer abrutschen und eine Arterie im eigenen Schenkel treffen. An solchen Wunden waren in Schlachthäusern schon viele verblutet. Wachsam machte Voland sich an die Arbeit.
Nach zwei Stunden hatte er genug Fleisch beisammen, um alle Bewohner einer Straße für eine Woche zu ernähren, wobei Muskelfleisch, Organe und anderes nun in verschiedenen Behältern lagen. Nachdem er das Zimmer gründlich gereinigt und sich herausgeputzt hatte, machte er sich auf den Weg zum Basar. Dort würde er die Händler mit Ware versorgen, die sie billig verkaufen konnten. Für die einfachen Leute .
Alles lief natürlich über den jungen Malum; er war Volands Hauptabnehmer, verfügte über Kontakte in der ganzen Stadt und hatte so seine Methoden, um dafür zu sorgen, dass dieses Fleisch auch an die Bedürftigen verkauft wurde. Voland hätte lieber nichts von Malums sonstigen Geschäften gewusst, von Drogen, Schutzgelderpressung, Diebstählen und unnötiger Gewalt, gar von Hinrichtungen auf fernen Dächern. All das war sehr unzivilisiert, doch Voland konnte nur daran denken, die Armen zu speisen und ihnen vielleicht überleben zu helfen.
Er selbst nämlich tat etwas Anständiges .
KAPITEL 31
N ach langem Ritt durch einen Birkenwald erreichten sie eine Lichtung, an deren Ende Ruinen standen, die an zugeschneite Granitfäuste denken ließen und aus einer rätselhaften Zeit stammten, über die Randur gar nichts wusste. Zwei zerfallene Totems waren aus dem lang verwitterten Stein gemeißelt, und ihre riesigen Gesichter starrten für alle Ewigkeit mit offenem Mund zum Himmel. Vögel saßen auf den Häuptern und musterten die unter ihnen Vorbeiziehenden.
Hinter den in der Vegetation aufgegangenen Ruinen lag noch mehr Schnee, aus dem Farn und Grasbüschel schauten. Der Weg durch den Wald schützte sie vor kälteren Winden, sodass dieser Teil der Reise viel erträglicher war, vor allem, wenn die Sonne durch die Wolken brach und alles zum Funkeln brachte. Bis zum Ende der Lichtung, wo eine unheilvolle Stille zu stehen schien, waren es hundert Schritte. Randur hatte das Gefühl, sie würden ständig beobachtet. Vielleicht wurden vor diesen Totems in früheren Zeiten Menschenopfer dargebracht , dachte er. Vielleicht werden wir von Geistern verfolgt …
Er drängte die zwei Schwestern weiterzureiten, während Munio hinterhertrabte und sich dauernd umsah.
»Vielleicht sollten wir eine Weile hierbleiben«, rief der Schwertmeister und blickte zur Sonne. Es war wolkenlos, und er bestimmte Uhrzeit und Himmelsrichtungen. »Es ist Mittag, und wir liegen bestens im Plan. Lasst uns etwas ausruhen. Ihr jungen Leute legt ein Tempo vor, mit dem der alte Munio nicht mitkommt.«
»Ich könnte noch ein Stück weiterreiten«, erwiderte Randur. »Und die Damen?«
Eir nickte undurchschaubar, glitt von dem Pferd, das sie mit ihrer Schwester teilte, und umklammerte den Griff ihres Schwerts, als wäre es alles, was sie noch
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