Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
schwieg Ramon noch immer, doch sogar in seine starre Miene schien etwas Ausdruck einzuziehen.
»Was treibt ihr drei eigentlich hier in der Stadt?«, fragte Jeryd.
Bellis erzählte ihre Geschichte, und Abaris unterbrach und verbesserte sie dauernd. Ramon schwieg weiter und wechselte nur ab und an mit Abaris einen Blick. Sie gehörten zum Orden der Grauhaarigen, der nur aus ihnen dreien bestand und eine inoffizielle, recht neue Sekte war. Die jüngeren Männer und Frauen in ihren früheren Orden waren ihnen schwer auf die Nerven gegangen, denn sie hatten ihnen stets zu verstehen gegeben, ihres hohen Alters wegen hätten sie den Anschluss verloren. Die Jüngeren wetteiferten ständig und waren entschlossen, ihren Wert zu beweisen, und viele kamen bei gewagten Experimenten ums Leben. Vor fünf Jahren hatten die drei Villjamur verlassen, um sich mit den eher abseitigen Sitten und Gebräuchen der Völker des Boreal-Archipels zu befassen. Aufgrund ihres hohen Alters verfügten sie über eine geradezu einzigartige Fülle an Erfahrung und Wissen, und das Unbekannte und Unwahrscheinliche zogen sie stets an.
»Und ihr seid nur zu dritt?«, fragte Jeryd und wunderte sich, dass eine Frau mit diesen beiden Männern überallhin reiste. Ob sie miteinander verwandt waren? Oder war der eine Mann mit ihr zusammen? Und falls ja: Wie mochte der andere sich bei diesem Arrangement vorkommen?
Plötzlich lachte die Frau auf, und ihre schrille Stimme erregte für Jeryds Geschmack viel zu viel Aufmerksamkeit. »Ich weiß, was Ihr denkt, Herr Ermittler, aber wir sind drei alleinstehende Erwachsene; uns verbindet nur unser gemeinsam gewähltes Ziel.«
Das glaubte Jeryd zwar nicht, beschloss aber, seinen Argwohn vorderhand zurückzustellen. »Und warum seid ihr nach Villiren gekommen, obwohl hier Krieg droht? Es gibt viele sicherere Orte.«
»Wir könnten Euch dasselbe fragen, Sir«, meinte Abaris und klappte den Schirm seiner Kappe hoch.
»Stimmt«, gab Jeryd zu. »Es reicht wohl, zu sagen, dass ich meine Nase in zu viele heikle Angelegenheiten gesteckt habe. Und so unwahrscheinlich es anmutet: Villiren ist für mich womöglich die sicherste Stadt im Kaiserreich.«
Abaris lachte und schien das Schurkische an Jeryd zu mögen. »Wir sind hier, weil wir was suchen. Wie immer. Doch es ist nicht leicht zu finden, erst recht nicht –«
Bellis unterbrach ihn. »Abaris, alter Schwerenöter, denk daran, dass der Ermittler ein vielbeschäftigter Mann ist! Also, was können wir für Euch tun? Ihr habt uns doch nicht eingeladen, damit wir Euch unsere Lebensgeschichten auftischen?«
Jeryd hielt einen Moment inne und überlegte, warum sie ihn nicht wissen lassen wollten, was sie im Schilde führten. »Ich bin auf einen interessanten Fall gestoßen und könnte bei einer Sache Hilfe brauchen, die meine Möglichkeiten übersteigt. Wie kann ich eine … eine ungewöhnlich große Spinne töten? Und wo mag sie hergekommen sein?«
»Kommt drauf an, wie groß sie ist«, erwiderte Bellis. »Eine Armlänge vielleicht?«
»Sie ist gut doppelt so groß wie ein Erwachsener.« Jeryd ließ seine Worte wirken. Den raschen Blicken zufolge, die die Kultisten tauschten, waren sie beeindruckt.
Jeryd fuhr fort und erzählte von den vielen Vermissten, vom Seidengespinst, das er da und dort in der Stadt entdeckt hatte, von den wenigen Zeugenaussagen. Er ließ sich nicht anmerken, wie verängstigt er war, fühlte beim Schildern der Ereignisse aber eine zunehmende Entschlossenheit in sich aufsteigen, die Phobie zu besiegen. Die kürzliche Bestätigung, dass es diese Riesenspinne wirklich gab (so befremdlich sie auch war), gab seinen Sorgen und Befürchtungen ein konkretes Ziel.
»Anständige, gesunde Bürger werden auf offener Straße verschleppt«, schloss Jeryd, »und anscheinend bin ich der Einzige in der Inquisition, dem das nicht gleichgültig zu sein scheint.«
»Da brat mir doch einer einen Storch«, brummte Abaris.
Ramon nahm einen Schluck Tee, nickte weise und sagte noch immer keinen Ton.
»Ein echtes Dilemma, Sir«, gab Bellis zu, nahm ihren Flachmann, legte den Kopf in den Nacken und kippte den Rest. Dann unterdrückte sie ein Aufstoßen und taxierte ihn, als wollte sie sehen, was er von ihr hielt. Jeryd hätte gestehen müssen, schon stilvolleren Damen begegnet zu sein …
»Es gibt alle möglichen Gründe für so eine Spinne«, erklärte Bellis. »Vielleicht ist sie ein Mischwesen. Oder ihr Wachstum wurde enorm gesteigert. Oder sie hat sich normal
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