Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
sich in Sicherheit zu bringen suchten. Schließlich gelang es der Garde, sich wie eine Mauer zwischen Feinden und Geiseln aufzubauen. Nun waren etwa siebzig Invasoren angelangt, und weitere Dutzend strömten nach – viel mehr als Brynd erwartet hatte. Doch er glaubte nicht, dass es allzu schwer werden würde, sie zu besiegen.
Er brüllte einen Befehl. Die Nachtgardisten rückten eng zusammen, hakten den erhobenen Schild in die ihrer Kameraden links und rechts ein und rückten als Phalanx vor. Pfeile gingen auf sie nieder, ein unerbittlicher Eisenregen.
Unter ihrem Metallpanzer rückten sie langsam vor.
Voland verzweifelte fast, als er eine neue Ladung Verletzte kommen sah. Meist hatte er nur mehr das Gefühl, lebende Tote zusammenzuflicken.
In den letzten zwei Tagen war er kaum acht Stunden aus dem Lazarett gekommen. Es war eine undankbare Arbeit, und ihm fehlte jeder Antrieb dazu. Kaum war ein Bett frei, warteten zwei Schwerstverletzte darauf. Mitunter hatte er vorsichtig den Sprengstoffkragen am Hals befühlt, aber es sah nicht so aus, als ließe er sich entfernen.
Endlich hatte er sich eine Pause gegönnt, um ein Glas Wasser zu trinken und die Umgebung ohne Hast ins Auge zu fassen. Er war in einer Kammer des Behelfslazaretts, einem lampenbeleuchteten Loch, in dem nur ein paar leere Becher standen und etwas altbackenes Brot lag.
Wo ist sie jetzt wohl? , fragte er sich.
Plötzlich erlosch das Licht, und er saß im Dunkeln und stieß einen müden Seufzer aus. Dann aber umschmeichelte ihn ein Wind, ein vertrauter Wind, wie ein alter Freund. Oder wie alte Freunde.
»Voland … «, tönten sie.
»… wir haben Euch wiedergefunden.«
»Wir möchten Euch helfen, aber wir haben schlechte Nachrichten.«
»Schlechte … «
»… traurige … «
»… tieftraurige Nachrichten.«
Voland stand auf und erkannte schwach ihre geisterhaft glimmenden Umrisse. Der Dämonenchor war zurückgekehrt. »Was gibt’s?«
»Nanzi hat uns verlassen, Voland.«
»Gestorben ist sie.«
»Wir haben es gespürt.«
»Das ist traurig … «
»… tieftraurig ist das.«
Ihm schien ein Pfeil ins Herz zu fahren. Fassungslos setzte er sich, um zu verarbeiten, was die Phonoi gesagt hatten, die ihm noch immer schwindelerregend um den Kopf schwirrten. Ihm war übel.
»Was ist geschehen?«
Sie erzählten ihm alles.
Er stürzte zu Boden. Sein Leben hatte jede Bedeutung verloren. Nichts ergab mehr einen Sinn, und seine Verwirrung mündete rasch in Frustration, dann in Wut.
Nanzi. Die Frau, die er anbetete, die er schon einmal gerettet und die er mitgestaltet hatte: Es war so viel von ihm in ihr wie in ihm selbst.
Sie ist nicht mehr …
In seinem Herzen hatte sich eine so entsetzliche Leere aufgetan, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Die erstickende Dunkelheit ließ ihn kaum atmen. Sie ist für die Leute dort oben gestorben, für das Gesindel. Sie hatte nichts mit ihnen zu tun und wurde eines Verbrechens wegen, das nicht als Verbrechen hätte gelten sollen, gezwungen, sich für sie einzusetzen. Es ist deren Schuld, dass sie nicht mehr bei mir ist … meine Nanzi .
»Es tut uns so leid, Voland.«
»Bitte erlaubt uns, Euch zu helfen.«
»Ihr seid so gut zu uns gewesen.«
»Wir möchten, dass Ihr Euch besser fühlt.«
Obwohl er schluchzend auf den Knien lag, brachte er ein »Danke« hervor. Dann weinte er eine Weile rückhaltslos vor den Phonoi – wie lange, wusste er nicht. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren, doch langsam ließ der Zorn ihn klare Gedanken fassen.
Als er die Beherrschung endlich zurückgewonnen hatte, tastete er sich zur Flurtür vor, öffnete sie, stand im Halbdunkel und überblickte ein Meer von Verwundeten, von zukünftigen Toten.
Es war ihre Schuld.
KAPITEL 50
A m frühen Morgen des fünften Gefechtstags stand Malum mit einem Glimmstängel an einem zerschossenen Fenster, genoss den Kontrast von Glut und kaltem Wind und beobachtete, wie die Kaiserlichen Soldaten sich zu einem Angriff auf die Grenze von Allmende und Altstadt rüsteten. Das wilde Kriegsgeschrei schien fern und unwirklich. Graue Wolken jagten am Horizont dahin, und die Brandung gischtete heftig. Der Wind trieb den Rauch der Scheiterhaufen aus den Außenbezirken in die Stadt.
Die Dielen federten, als JC zu ihm hochkam. »Boss, da will dich wer sprechen.«
Beim Weggehen knirschten JC s Schritte über zerbröseltes Mauerwerk. Nach kurzer Stille sagte eine Stimme: »Malum … «
Beami. Er nahm noch einen Zug und atmete ruhig aus. Sie
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