Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
wirkenden Gästen. Auf dem Tresen brannten Räucherstäbchen, und hinter der Theke hockten zwei junge blonde Mädchen; das eine hatte die Arme verschränkt, das andere wischte langsam einen Teller. Das Lokal war groß, doch von draußen fiel kaum Licht herein. Stattdessen spiegelten sich flackernde Kerzen in den polierten Tischen. Etwa zehn Gäste waren zugegen, und so voll war es zu dieser Morgenstunde wohl in jedem Bistro des Kaiserreichs. Sie alle (es waren überwiegend Männer) starrten Jeryd an, und wer keine Maske trug, zeigte einen kalten, distanzierten Blick. Ein Arbeitskollege hatte ihm erzählt, wie feindlich die Menschen hier Rumeln begegneten.
»Morgen!« Jeryd warf seinen Umhang über einen Stuhl am Ecktisch und nahm den Hut ab.
Die Leute hier waren zweifellos nicht allzu freundlich, aber vielleicht war das in einer Stadt so hoch im Norden ja normal.
»Morgen!«, sagte schließlich ein Graubart mit winzigen Augen. »Ihr seid Rumel?«
»Richtig«, brummte Jeryd und bestellte bei einem der Serviermädchen Schwarztee und ein Teilchen.
»Hier kommen nicht viele Rumel her«, bemerkte der Graubart kalt.
»Ach?« Jeryd ließ sich stöhnend am Ecktisch nieder. Man wird nicht jünger .
Der Graubart stand auf, und seine Begleiterin in blauer Maske und blauem Umhang sah weg, wohl aus Verlegenheit. »Ich bin nicht sicher, ob Ihr mich verstanden habt, Freundchen.«
Jeryd erwiderte seinen Blick und war sich plötzlich seiner rauen, dunklen Haut, des Schwanzes und der glänzenden schwarzen Augen bewusst. Seit Langem hatte er nicht mehr mit solchem Abschaum zu tun gehabt. »Bitte verzeiht!« Er öffnete seine Jacke und brachte die Inquisitionsplakette mit dem ikonischen Schmelztiegel zum Vorschein. »Ermittler Rumex Jeryd – freut mich, Euch kennenzulernen. Ich bin neu hier, weiß also nicht, wo die Mistkerle verkehren. Noch bin ich dabei, mich zu orientieren.«
»Oh!«, erwiderte der Graubart und ruderte verzweifelt zurück. »Gut … ich sehe schon … «
»Alles, was Ihr seht, ist ein Rumel, nicht wahr? Ich verstehe. Und wenn Euch das nicht gefällt, haltet doch bitte die halbe Stunde aus, bis ich eines dieser delikaten Teilchen gegessen habe. Anderenfalls lass ich Euch über Nacht in eine Zelle schaffen, wo ein Insasse Euch womöglich bewusstlos prügelt. Reicht das, um Eure schicke Frau zu beeindrucken, Freundchen ?«
Die Kellnerin brachte die Bestellung, und ihr Lächeln zeigte, dass sie die Vorführung genoss. Er zwinkerte ihr zu.
Der Graubart setzte sich und begann einen knappen, verärgerten Wortwechsel mit seiner Begleiterin. Natürlich waren Rumel im Archipel eine Minderheit, und deshalb hatte Jeryd sich schon mit Rassismus befassen müssen, doch das war eine Weile her, denn Villjamur war eine aufgeklärte Stadt; er hatte nicht damit gerechnet, in einem größeren Ort des Reichs auf so eine Haltung zu stoßen. In Villjamur war die letzte nur Menschen vorbehaltene Taverne schon vor seiner Geburt geschlossen worden. Vielleicht waren die Dinge hier oben im Norden wirklich anders.
Als er in sein Teilchen biss – eine wunderbar süße Kreation, aus deren Mitte Honig troff – und an seinem Tee nippte, stellte er fest, dass die Stimmung im Lokal sich sehr zum Angenehmen veränderte.
Wenn Jeryd morgens um acht an seinen Schreibtisch kam, fand er schnell zu seinem Rhythmus. Er holte sich von dem guten Tee, den es in der Inquisition gab, plauderte mit den wenigen Mitarbeitern, die ihre Arbeit ebenso leidenschaftlich taten wie er, und war rasch in seinen Fällen versunken. Die Kollegen respektierten ihn allmählich, und das entging ihm nicht. Der Grund für diese Wertschätzung war einfach: Jeryd schien der Einzige zu sein, der an der Aufklärung von Verbrechen wirklich interessiert war, und dies überraschte ihn selbst ein wenig.
Kaum hatte er einige ungelöste Kriminalfälle erbeten, schon stapelten sich auf seinem Tisch die Akten.
Er überflog die Unterlagen nach Hinweisen, die bei der Lösung des Haust-Falls nützlich sein mochten. Es gab die üblichen Großstadtverbrechen: Diebstahl, Vergewaltigung, Körperverletzung, Mord. Die Zahl der Vermisstenanzeigen allerdings war letzthin gestiegen, doch niemand hatte Zeit gefunden, dem nachzugehen. Auch der Absatz von Porno-Golems hatte sich jüngst erheblich erhöht – Kultisten stellten diese Frauenpuppen mithilfe der Banden her, um den notgeilen Männern von Villiren eine Alternative zu bieten, sodass die Huren nicht bei bitterer Kälte auf der
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