Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
Straße stehen und an Lungenentzündung sterben mussten. Jeryd war verstimmt, aber nicht erstaunt, als ein Kollege andeutete, dieser Handel sei vom Bürgermeister abgesegnet und die Inquisition angewiesen, sich nicht um diese zwielichtige Produktion zu kümmern.
Was die Morde vom Vorabend anging, waren vier Leichen mit jeweils punktförmigen Wunden am Hals und verschrumpelten Körpern aufgefunden worden, doch keins der Opfer war vermisst gemeldet. Alle vier hatten hinter den Tavernen gelegen, in denen sie sich betrunken hatten, und niemand war weiter überrascht über ihren Tod. Doch solche Fälle wurden ohnehin meist von einer anderen Abteilung der Inquisition behandelt.
Nachdem Jeryd eine Stunde später alle Fälle überflogen hatte, begab er sich zu einer Besprechung mit dreien seiner Vorgesetzten, grauhäutigen Rumeln, die sehr viel älter waren als er und schon vor dem Mittagessen betrunken schienen.
Er unterrichtete sie kurz über den neuen Fall, um sich zu versichern, dass er ihn legitim verfolgen konnte, und stieß auf keine Einwände. Niemand in der Inquisition schien daran interessiert, was er tat, und das ärgerte und freute ihn zugleich. Es gab keine Ablenkungen, keinen langweiligen Verwaltungskram, keine Verstrickung in Papierkrieg.
Jeryd begann mit der Befragung derer, die Vermisstenanzeigen aufgegeben hatten. Dabei verfuhr er streng systematisch und ging die Straßen mit seiner Helferin Nanzi ab, die sich als so gewissenhaft wie stets erwies.
Er mochte Nanzi. Sie brachte die für die Inquisitionsarbeit so dringend nötige Beständigkeit mit, und ihr Forschergeist bereicherte die Zusammenarbeit. Tee holte sie ihm auch regelmäßig, und sie sorgte ebenfalls dafür, dass das Kaminfeuer prasselte. Zudem hielt sie seine Notizen in Ordnung und sammelte sie in einer Mappe, ohne dass er darum hatte bitten müssen. Überdies kümmerte sie sich um die Anliegen der Frauen und Kinder, die sich in der Vorhalle der Inquisition drängten und erschreckende Taten dieser oder jener Couleur zur Anzeige brachten. Gute Helfer waren schwer zu kriegen.
Als sie durch die Straßen trotteten, stellten sie bald fest, dass es sich bei den Vermissten um ganz verschiedene Typen handelte. Jeryd musste viele leidtragende Familien befragen, war aber vor allem daran interessiert, Parallelen zum Verschwinden des Nachtgardisten aufzutun. Sich darauf zu konzentrieren, machte es wahrscheinlicher, ihn zu entdecken oder herauszufinden, was ihm zugestoßen war.
Einige Häuser in der Stadt – eilig hochgezogene Bauten ohne Gespür für Proportionen – zeugten von äußerster Armut. Dort lebten viele Menschen beengt in würfelförmigen und einförmigen Zimmern. Diese anonymen Hochhaussiedlungen hatten einst als letzter Schrei hinsichtlich Modernität und Hygiene gegolten. Das ist der Fortschritt, hatte Lutto erklärt und sich dabei die Miete der Bewohner in die Tasche gesteckt, doch im Laufe der Jahre war der Siedlung noch der letzte Rest Seele abhandengekommen.
Unermüdlich klapperte Jeryd Familie für Familie ab, ging von Tür zu Tür, sah in Gesicht nach Gesicht.
Irgendwie war ihm klar, dass einige Vermisste nie mehr auftauchen würden. Etwas an den runtergekommenen Wohnungen, aus denen sie verschwunden waren, sagte ihm, dass sie es nun – wo sie auch waren – womöglich besser hatten als zuvor.
Jeryd beschäftigte sich mit Lebensläufen, die kein Amtsträger je der Untersuchung für wert befunden hatte, mit Biografien, die schon vor Jahren gescheitert waren; mit Frauen, die aussahen, als würden sie gleich weinen; mit Männern, die sich längst jenseits jeglicher Verzweiflung befanden; mit jungen Mädchen, die noch jüngere Mädchen im Arm hielten, von denen er nur hoffen konnte, es seien nicht ihre Töchter; mit alten Leuten, deren Krankheiten er nicht beschreiben konnte; mit Vergessenen, die in ihrer Wohnung vor sich hin vegetierten, da sie in der Stadt nicht mehr erwünscht waren. Jeryd wusste, dass er vermutlich der erste Ermittler war, der diese Familien nach der Person fragte, die aus ihrem Leben verschwunden war: Mütter, die ihr ältestes Kind verloren hatten, auf dessen Einkünfte aber angewiesen waren; Männer, denen die Frau nach dreißig Jahren Ehe abhandengekommen war; Rudel von Kindern, zu denen die Eltern fehlten.
Ihr werdet sie finden, oder? Ihr werdet uns helfen?
Viele sagten, sie könnten hier keine Arbeit auftun, draußen im Eis aber nicht überleben. Einige behaupteten, der Bürgermeister habe die
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