Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
Gewerkschaften gelähmt oder bestochen und für einen derartigen Zustrom an billigen Arbeitskräften gesorgt, dass die Löhne ins Bodenlose gefallen waren. Auch habe er auf Flugblättern erklärt, Unterstützungszahlungen müssten gekürzt werden, um die Kosten für die Verteidigung gegen einen drohenden Angriff aus dem Norden aufzubringen (früher dagegen hatte er behauptet, diese Kürzungen seien nötig, um Vorbereitungen gegen Terrorangriffe der Stämme Varltungs zu treffen). So hatte Lutto ein Klima der Angst geschaffen, um die Armen stumm und am Boden zu halten.
Sollte diesen Familien klar sein, dass ein Krieg bevorstand, dann zeigten sie es nicht.
Wie kann man Menschen vernichten, die schon gebrochen sind?
Doch Jeryd und Nanzi fanden etwas überaus Interessantes heraus: Verschwunden waren vor allem Menschen, die bessere Tätigkeiten verrichteten – Händler, Tavernenwirte, Schmiede. Jeryd ärgerte sich darüber, dass die Inquisition diese Anzeigen hatte ignorieren können.
Im Schneetreiben kehrten sie von ihrer Ermittlungstour zur Inquisitionsbehörde zurück.
»Kein schönes Bild, was?« Jeryd war so tief in Gedanken versunken gewesen, dass er sich mitunter allein geglaubt hatte. Dieser Tag, so vermutete er, hatte Nanzi zugesetzt.
»Ich hatte keine Vorstellung davon, wie schlimm die Verhältnisse in Villiren sind«, bekannte sie. »Und doch können wir kaum etwas für diese Menschen tun, oder?«
»Ein guter Ermittler«, so Jeryd, »hat stets eine Wahl, auch wenn es nicht danach aussieht. Er weiß intuitiv, was richtig ist und dass er die Möglichkeit hat, etwas zu tun.«
»Klingt, als wärt Ihr der letzte anständige Ermittler.«
»Ich habe auch den Eindruck, dass ich die Stellung ganz allein halte«, pflichtete Jeryd ihr bei.
Wieder ein langer Tag, an dessen Ende die Beine wehtaten und ihm vor lauter Reden die Kehle schmerzte. Nachdem Nanzi Feierabend gemacht hatte, blieb er noch im Büro und dachte – eine Tasse Tee in der einen Hand, einen Keks in der anderen – über die Ergebnisse des Tages nach.
Gewisse Muster zeichneten sich ab.
Die meisten Vermissten waren entweder im Umkreis der Altstadt und des Hafens oder im Stadtteil Tiefland sowie nahe der Zitadelle und der Kasernen gemeldet worden.
Jeryd brütete darüber nach, was das bedeuten mochte.
Was unterschied die Leute dort von den übrigen Stadtbewohnern? Und waren sie wirklich von einem sorgfältig und geheim arbeitenden Mörder umgebracht worden, oder hatten womöglich reiche Männer und Frauen des drohenden Krieges wegen ihre Familien verlassen und sich abgesetzt?
Da die Rote Sonne so hoch im Norden früh unterging, erwog er diese Dinge noch eine ganze Zeit nach Einbruch der Dunkelheit.
Wieder flüsterte es: Jemand wisperte dringlich einen Namen, aber nicht seinen. Es war Nacht geworden, und Jeryd lag einmal mehr im Bett. Seine rote Kniehose mit den goldenen Sternen hing über einer Stuhllehne, als wollte sie ihn verhöhnen. Er hatte ein Geschichtsbuch aus dem Regal gelesen – staubtrockene Fakten, wie er sie brauchte, um seine Kriminalfälle aus dem Kopf zu bekommen.
Marysa hatte alle Bibliotheken der Stadt durchforstet. Statt einer Zentralbücherei gab es in allen Vierteln kleine Zweigstellen, die mitunter nur die Größe von Wohnzimmern oder Dachkammern hatten. Gegenwärtig fahndete sie nach Publikationen über antike Architektur. Überall im Boreal-Archipel waren alte, unbekannten Zwecken dienende Bauten zu finden, von denen oft nur noch Ruinen standen, doch in Villiren war von ihnen wenig zu entdecken. Marysa hoffte, sich als Geschichtslehrerin durchschlagen zu können, aber kaum jemand schien an der Vergangenheit interessiert.
Eben war sie von einer ihrer ersten Unterrichtsstunden in einer seltsamen Kampfsportart zurückgekehrt. Unablässig kursierten grelle Werbehandzettel in der Stadt, auf denen Kampftechniken gegen Bandengewalt und damit Sicherheit vor Ganoven angepriesen wurden. Jeryd hatte damit nie mithalten können, denn es gab stets einen neuen Kniff zu erlernen – den Schlag oder Stoß, der alle besiegen würde.
Das Nonplusultra des Kampfsports! Das Killersystem! Frauen, verteidigt euch gegen die Tyrannei der Banden!
Als sie gerade nebenan in der Küche war, um noch einen Tee für sie beide zu machen, hörte er plötzlich eine Stimme, bei der es sich vielleicht nur um den Wind handelte.
Erst beim zweiten Mal war klar, dass da jemand einen Namen wisperte.
Als er das Fenster öffnete, um nachzuschauen, war es
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