Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
drehte der alte Priester den Handrücken nach oben. Brynd zog den gewachsten Umhang aus, legte ihn gefaltet beiseite und kniete nieder, um die dargebotene Hand zu küssen. Für seinen Geschmack steckten an den alten Fingern viel zu viele goldene Ringe.
»Ein Nachtgardist in meiner Kirche«, krächzte der Priester. Sein Gesicht war etwas pockennarbig, seine Augen scharf. »Eine wahre Ehre. Und dann noch der berühmte Albino … «
Die Kirche war eher eine Kathedrale und mit Ornamenten überzuckert. Brynd konnte das nicht ausstehen. Was brauchten Bohr und Astrid als Schöpfergötter und Verkörperungen des Männlichen und Weiblichen eine so übertriebene Pracht? Die Kandelaber, bekrönten Spiegel und kunstvoll gezimmerten Konsolentische ließen doch nur vermuten, dass die Priester und Priesterinnen den Gläubigen viel Geld aus der Tasche zogen, um es für Tand auszugeben. Ein dicker, roter Teppich teilte den höhlenartigen Steinsaal mit Holzbänken an beiden Seiten, auf denen die Männer und Frauen der Stadt getrennt voneinander in den ihnen zugewiesenen Bereichen beteten.
»Priester Pias, die Ehre ist ganz meinerseits«, log Bry nd und er hob sich, um dem Alten ins Gesicht zu sehen. Ti efe Falten in d essen Haut widersprachen dem Eindruck eines friedvollen Daseins. Seine Nase war vogelartig, die Lippen ungewöhnlich schmal.
»Wie kann ich Euch behilflich sein?« In der Stille des Kirchenschiffs hatte Pias’ Stimme etwas Gebieterisches. Sie gingen zu einer Sitzbank weiter vorne, wo der Priester seinen Besucher mit einer Handbewegung aufforderte, sich zu setzen.
Hunderte Kerzen erleuchteten den hohen Raum und schufen eine auf unnatürliche Weise eindringlich anmutende Atmosphäre der Wärme und des Friedens. Weiter hinten brannten Weihrauch und Sandelholz, und ab und an schwebte Asche durchs Licht.
»Ich möchte Euch um einen Gefallen bitten«, begann Brynd. »Ihr wisst bereits von unserer gegenwärtigen Krise – ich will Euch darum nicht mit Einzelheiten langweilen.«
»Allerdings«, erwiderte Pias seufzend. »Eine ernste Angelegenheit. Wie kommt Ihr damit zurecht?«
Brynd berichtete die betrüblichen Tatsachen wahr und ungeschönt. »Ich frage mich, wie lange wir uns gegen einen Angriff dieser Größenordnung behaupten können. Wir haben beschlossen, viele Kultisten herzubitten, damit sie uns bei der Vorbereitung helf –«
»Das ist Irrsinn, Kommandeur. Kultisten sind unzuverlässig und widerwärtig.«
Brynd wusste, wie sehr die Kirche die Kultisten verabscheute, doch mit einer so giftigen Ablehnung hatte er nicht gerechnet. Schweigend wartete er, dass der Priester fortfuhr.
»Sie pfuschen auf unmoralische Weise an der Ordnung des Universums herum. Natürlich würde Bohr ihre Techniken nicht gutheißen, doch sie halten ihre Lügen darüber, wie die Welt funktioniert, weiter aufrecht, Kommandeur. Ihr tätet gut daran, ihren verführerischen Einflüsterungen kein Gehör zu schenken.«
»Die Zeiten sind leider äußerst gefährlich. Ich bin sogar gezwungen, mich der Unterstützung von Straßengangs zu versichern.«
»Tatsächlich?« Der Priester leckte sich die Finger, um einige lose Strähnen seines dünnen grauen Schopfes zu bändigen. »Ich glaube kaum, dass solche Verbrecher sonderlich nützen können.«
»Zugegeben, aber die Zeiten sind ungewöhnlich. Diese Menschen der Straße sind zäh, und vielleicht finden sie ja Erlösung … jedenfalls in den Augen von Bohr und Astrid.«
»Das ist wahr«, pflichtete Priester Pias ihm bei und zuckte gelassen die Achseln.
»Doch was ich suche und brauche«, fuhr Brynd fort, »ist eine gewisse Anleitung. Ihr sollt ein leidenschaftlicher Prediger sein.«
»So heißt es, ja. Ich bin ein entschiedener Verfechter unserer Jorsalir-Lehren.« Der Priester lächelte. »Aber welche Hilfe könnte das einem Soldaten liefern?«
»Vor allem Inspiration. Ich habe überlegt, ob es in den religiösen Schriften Stellen gibt, die sich auf Kämpfe für eine große Sache beziehen. Denn meinen Kundschafterberichten zufolge haben wir es hier mit etwas sehr Bösem zu tun. Man könnte sogar sagen: mit etwas Außerweltlichem .«
»Ein Soldat erbittet geistige Anleitung für den Kampf gegen die Kräfte des Bösen?« Pias konnte seine Belustigung kaum verbergen.
Überheblicher Dreckskerl, dachte Brynd. »Nicht ganz, Priester Pias. Aber gibt es solche Stellen in den religiösen Schriften?«
»Natürlich. Obwohl sich die Dinge nicht so schwarz-weiß ausnehmen, wie man meinen könnte.
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