Die Legende der Wächter 4: Die Belagerung
Kludd je gesehen hatte. Ihr dichtes weißes Gesichtsgefieder leuchtete wie der Mond selbst.
Später hatte Kludd mitbekommen, was man sich über Nyra erzählte. Wie die sagenhafte Nyra, deren Namen sie trug, war auch sie während einer Mondfinsternis geschlüpft. Angeblich war in jener Nacht der Mond vom Himmel gefallen und im Gesicht eines Eulenkindes wieder aufgegangen. Eulen, die bei Mondfinsternis schlüpften, verfügten über besondere Kräfte, hieß es. Manchmal bewirkten diese Kräfte Gutes und die betreffende Eule entwickelte eine große Seelenstärke. Manchmal geschah aber auch das Gegenteil und das war bei Nyra der Fall. Sie war durch und durch böse. Und sie hatte auf den ersten Blick erkannt, dass Kludd ihr behilflich sein konnte, ihren Traum von der Alleinherrschaft der Reinen zu verwirklichen.
Trotz seines zarten Alters hatte sie ihm angesehen, dass Zorn und Mordlust in seinem Magen gärten. Daraufhin hatte sie mit dem vorigen Hohen Tyto über den jungen Schleiereulerich gesprochen. Sie hatten sich darauf geeinigt abzuwarten, bis Kludd flügge war. Dann wollten sie ihn zu einer ihrer Feiern einladen.
Die Feiern bei den Reinen liefen anders ab als die Feiern der übrigen Eulen. Bei den meisten Eulenfamilien wurden die Entwicklungsschritte der Kinder festlich begangen. Da gab es zum Beispiel die Erstes-Fell-am-Fleisch-Feier , die Ersten Knochen und den Ersten Flug . Im Gegensatz dazu waren die Feiern der Reinen eher Prüfungen, bei denen es um Mut und Entschlossenheit ging. Es gab sogar Prüfungen für Zorn. Zorn wurde nämlich bei den Reinen mit Mut gleichgesetzt und war die Eigenschaft, die an einer Eule am höchsten geschätzt wurde.
Bei Kludds erster Prüfung musste er die Nesthälterin einer befreundeten Familie umbringen. Bei der zweiten sollte er eine fremde Eule überfallen und verstümmel n – natürlich keine Schleiereule, sondern einen Sägekauz. Kludd übertraf hierbei alle Erwartungen, die Nyra und der Hohe Tyto in ihn setzten. Er war ein gerissener und zugleich äußerst brutaler Mörder. Die letzte Prüfung war für die meisten Prüflinge die schwerste, denn es musste ein Familienmitglied geopfert werden. Kludd hatte damit keine Schwierigkeiten. Er hatte Soren schon verabscheut, kaum dass der kleine Bruder geschlüpft war. Kludd hatte gleich gespürt, dass die Eltern Soren lieber hatten als ihn, ihren Ältesten.
Soren war seinem Vater sehr ähnlich. Auch er liebte die alten Legenden. Er machte sich nichts aus Kämpfen und Kampfkrallen, er war überhaupt eine kleine Mustereule. Er machte Kludd wahnsinnig! Darum freute er sich richtig darauf, den verhassten Rivalen aus dem Nest zu stoßen. Kludd war natürlich davon ausgegangen, dass Soren das nicht überleben würde. Ein flugunfähiges Eulenkind unten auf der Erde war für jeden vierbeinigen Räuber ein gefundenes Fressen. Vor allem Waschbären fielen bei Anbruch der Dunkelheit über solche hilflosen Vogeljungen her. Tatsächlich war Soren am nächsten Morgen verschwunden. Kludd wäre nie auf die Idee gekommen, dass die Eulen von Sankt Ägolius seinen Bruder entführt hatten! Er traute seinen Augen nicht, als er Soren im Wald von Ambala wiedertraf, wo sein Bruder und dessen Freunde den alten Ezylryb aus dem Teufelsdreieck befreiten. Da war Soren auf einmal so zornig und entschlossen gewesen wie Kludd selbst! Kludd hatte den Schreck seines Lebens bekomme n – und ein glühender Hass auf seinen Bruder hat sich in ihm entzündet. Noch nie hatte er solchen Hass verspürt, nicht einmal in jener Nacht, als er mit dem vorigen Hohen Tyto um Nyras Gunst gekämpft und schwerste Entstellungen davongetragen hatte.
Doch Nyra fand ihn auch mit entstelltem Gesicht schön. So bedingungslos, wie sie ihn liebte, hatten ihn seine Eltern nie geliebt. In ihren Augen war alles, was er tat, gut und richtig. Sie brachte es fertig, dass er sich stark fühlte. Manchmal redete Nyra in der alten Sprache der Nordlande mit ihm, denn von dort stammte sie ursprünglich. Dann sagte sie mit ihrem reizenden Lispeln:
Erraghh tuoy bit mik in strah.
Erraghh tuoy frihl in mi murm frissah di Naftur,
regno di frahmm.
Erraghh tuoy bity mi plurrh di glauc.
E mi’t, di tuoy.
Dein Zorn ist das Juwel in meiner Krone.
Dein Zorn brennt in mir wie das Feuer von Naftur,
Herrscher über die Flammen.
Dein Zorn ist mein Lebenssaft.
Und mein Zorn ist deiner.
Jedes Mal, wenn Kludd diese leidenschaftliche Liebeserklärung in den Sinn kam, war ihm zumute, als könnte er die ganze Welt
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