Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
imstande, über deine Nasenspitze hinauszudenken? Dort steht er, jung und stark und voller Möglichkeiten. Sein Blut ist ebenso gut wie deines, auch wenn er auf der falschen Seite des Bettes geboren wurde. Also, was würdest du aus ihm machen? Ein Werkzeug? Eine Waffe? Einen Gefährten? Einen Feind? Oder wirst du das ungeformte Erz liegenlassen, damit jemand anders es aufhebt und gegen dich verwendet?«
Edel sah mich an, dann an mir vorbei, und als er sonst niemanden im Saal entdecken konnte, kehrte sein ratloser Blick zu mir zurück. Einer der Welpen stupste mich am Bein und winselte – als Mahnung, ihn beim Teilen nicht zu vergessen. Ich gab ihm zu verstehen, er solle lieber still sein.
»Den Bastard? Er ist bloß ein Kind.«
Der alte König seufzte. »Heute. An diesem Morgen und jetzt ist er ein Kind. Wenn du dich das nächste Mal umdrehst, wird er ein Jüngling sein oder, schlimmer noch, ein Mann, und dann ist die Chance vertan. Aber nimm ihn jetzt, Edel, und forme ihn, und in zehn Jahren ist er dir treu ergeben. Statt eines unzufriedenen Bastards, den man überreden kann, Anspruch auf den Thron zu erheben, wird er ein loyaler Vasall sein, sowohl im Geist als auch durch das Blut der Familie fest verbunden. Ein Bastard, Edel, ist etwas Einzigartiges. Steck ihm einen Siegelring an den Finger und sende ihn aus, und du hast einen Diplomaten geschaffen, den kein benachbarter Herrscher abzuweisen wagt. Ihn kann man hinschicken, wo es für einen Prinzen von Geblüt zu gefährlich wäre. Bedenke die Gelegenheiten, bei denen jemand von Nutzen wäre, der dem Herrscherhaus angehört, aber nur hinter dem Thron steht. Austausch von Geiseln. Politische Heiraten. Wirken im Verborgenen. Die Diplomatie des Stiletts.«
Bei den letzten Worten des Königs wurden Edels Augen groß und rund. Für einen atemlosen Moment standen wir alle regungslos und musterten uns gegenseitig. Als Edel sprach, hörte es sich an, als hätte er Brotkrümel im Hals. »Herr Vater, Ihr redet von diesen Dingen vor den Ohren des Jungen. Davon, ihn als Werkzeug zu benutzen, als Waffe. Glaubt Ihr nicht, daß er sich an Eure Worte erinnern wird, wenn er erwachsen ist?«
König Listenreichs Lachen hallte von den Steinwänden des Großen Saal wider. »Sich an sie erinnern? Natürlich wird er das tun. Ich will es hoffen. Sieh in seine Augen, Edel. In ihnen spiegelt sich Intelligenz und möglicherweise ein Potential für die Gabe. Ich wäre töricht, ihn zu belügen. Törichter noch, seine Erziehung und Ausbildung zu beginnen, ohne ihm reinen Wein einzuschenken. Dadurch wäre sein Verstand ein fruchtbarer Boden für jeglichen Samen, den ein anderer dort einpflanzt. Ist es nicht so, Junge?«
Er sah mich unverwandt an, und ich merkte plötzlich, daß ich seinen Blick erwiderte. In den Augen des Mannes, der mein Großvater war, fand ich Redlichkeit, von einer knorrigen, nüchternen Art, die nicht wärmte, aber ich wußte, ich würde mich stets darauf verlassen können. Ich nickte langsam.
»Komm her.«
Schüchtern ging ich zu ihm hin. Als ich vor ihm stand, ließ er sich auf ein Knie nieder, so daß wir uns auf gleicher Höhe befanden. Der Narr kniete sich neben uns hin und blickte ernsthaft von einem zum anderen. Edel sah verdrossen auf uns hinunter. Damals erkannte ich nicht die Ironie der Situation: daß der alte König das Knie vor seinem Bastardenkel beugte. Widerstandslos ließ ich es geschehen, daß er mir den Kuchen aus der Hand nahm und den jungen Hunden hinwarf, die hinter mir her scharwenzelt waren. Er zog eine Nadel aus dem Seidenjabot an seinem Hals und steckte sie feierlich an mein grobes Wollhemd.
»Jetzt gehörst du mir«, sagte er und verlieh diesem Akt der Aufnahme in seinen Haushalt mehr Gewicht als der Tatsache, daß wir blutsverwandt waren. »Du sollst keines anderen Mannes Brot essen. Ich werde für dich sorgen und es dir an nichts fehlen lassen. Wenn man versucht, dich mit Gut und Geld zum Verrat an mir zu bewegen, dann komm zu mir, und ich werde dich zufriedenstellen. Du wirst mich niemals kleinlich finden und nie mit Recht behaupten können, ich hätte dich durch Mißachtung bewogen, abtrünnig zu werden. Glaubst du mir das, mein Junge?«
Ich nickte stumm, wie es immer noch meine Gewohnheit war, doch seine zwingenden braunen Augen verlangten mehr.
»Ja, Euer Majestät.«
»Gut. Ich werde Anweisungen geben, was dich betrifft. Befolge sie. Falls dir etwas befremdlich erscheint, wende dich an Burrich. Oder an mich. Du brauchst nur an
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