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Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder

Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder

Titel: Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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mißbilligenden Kopfschütteln. »Nein. Er ist oben in seinem Turm«, beschied er mich kurz und schloß die Tür.
    Nun, eigentlich war ich von Kettricken vorgewarnt worden, aber ich hatte mich bemüht, diesen Teil unserer Unterhaltung zu vergessen. Schweren Herzens machte ich mich auf den Weg. Veritas hatte keine Veranlassung, sich in diesem Turm aufzuhalten. Von dort aus machte er im Sommer von der Gabe Gebrauch, wenn das Wetter gut war und die Piraten vor unseren Küsten auftauchten. Es gab keinen Grund, sich im Winter dort aufzuhalten, erst recht nicht, wenn es stürmte und schneite wie heute. Keinen Grund, außer der süchtig machenden Verlockung der Gabe selbst.
    Ich hatte diese Lockung gespürt, rief ich mir ins Gedächtnis, während ich mich unlustig daran machte, die lange Wendeltreppe zu erklimmen. Ich hatte die rauschhafte Euphorie der Gabe kennengelernt. Wie die tief vergrabene Erinnerung an einen lange zurückliegenden Schmerz tauchten Galens, des Gabenmeisters, Worte aus meinem Gedächtnis auf. »Wenn ihr schwach seid«, hatte er uns gedroht, »wenn euch Zielstrebigkeit und Disziplin mangeln, wenn ihr verführbar seid und dem Vergnügen zugeneigt, werdet ihr die Gabe niemals beherrschen. Vielmehr wird die Gabe euch beherrschen. Übt euch in Askese und Selbstzucht, kehrt euch ab von allen Verlockungen des Fleisches und dann, wenn ihr seid wie lauterer Stahl, seid ihr vielleicht bereit, die Lockung der Gabe zu erfahren und ihr zu widerstehen. Denn erweist ihr euch als unwert und erliegt ihr der Versuchung, dann wird sie euch aufzehren, bis ihr seid wie neugeborene Kinder, ohne Verstand und sabbernd.« Dann hatte er uns geschult, mit Entbehrungen und Strafen, die weit über jedes vertretbare Maß hinausgingen. Doch als ich zum erstenmal die Lust der Gabe erfuhr, war es nicht das billige Vergnügen, das Galen angedeutet hatte. Mir verursachte sie das gleiche Herzklopfen und Erschauern wie manche Musikstücke oder das plötzliche Auffliegen leuchtend bunter Fasane in einem Herbstwald oder auch nur das Glücksgefühl, ein Pferd fehlerlos über einen schwierigen Sprung geführt zu haben. Der Augenblick, wenn alle Dinge im Gleichgewicht sind und in vollkommener Harmonie einhergleiten wie ein kreisender Vogelschwarm am Himmel – das schenkte einem die Gabe, aber nicht nur für einen Augenblick. Vielmehr währte es so lange, wie die Kraft reichte, und wurde stärker und reiner, je mehr man sich in der Gabe vervollkommnete. Glaubte ich. Meine eigene Fertigkeit, die Gabe zu gebrauchen, war in dem geistigen Kräftemessen zwischen mir und Galen für immer verstümmelt worden. Die Schutzwälle, die ich infolgedessen um mein Bewußtsein errichtet hatte, waren sogar für einen in höchstem Maß der Gabe Kundigen wie Veritas nahezu unüberwindlich. Und meine eigene Fähigkeit, hinauszudenken, mit der Gabe weitzusehen oder zu kommunizieren, war mir ein unzuverlässiger Helfer, bockig und launisch wie ein übernervöses Pferd.
    Vor der Tür des Turmgemachs blieb ich stehen. Ich atmete tief ein und langsam wieder aus, entschlossen, mich nicht von der düsteren Stimmung überwältigen zu lassen. Es war geschehen, es war vorbei. Sinnlos, gegen etwas aufzubegehren, das nicht zu ändern war. Nach alter Gewohnheit trat ich ein, ohne anzuklopfen, damit Veritas nicht in seiner Konzentration gestört wurde.
    Trotz allem erschütterte es mich zu sehen, daß er tatsächlich hier oben war, um von der Gabe Gebrauch zu machen. Die Fensterläden waren zurückgeschlagen. Auf den Sims gestützt lehnte sich Veritas hinaus. Der Wind zerwühlte sein schwarzes Haar, Schneeflocken setzten sich auf sein dunkelblaues Hemd und Wams. Er atmete tief und lang und regelmäßig, eine Frequenz irgendwo zwischen sehr tiefem Schlaf und der eines Läufers im Ziel, der allmählich zur Ruhe kommt. Er schien mein Kommen nicht bemerkt zu haben. »Prinz Veritas?« fragte ich leise.
    Er wandte sich zu mir um, und sein Blick war Hitze, Licht, Sturm. Seine Gabe traf mich mit solcher Gewalt, daß ich das Gefühl hatte, aus mir selbst vertrieben zu werden; sein Bewußtsein ergriff so vollständig von mir Besitz, daß kein Raum für mich blieb, um ich selbst zu sein. Einen Moment lang ertrank ich in Veritas, dann war er aus mir verschwunden, so plötzlich, daß ich taumelte und japste wie ein Fisch, den eine hohe Welle an Land getragen und auf dem Trockenen zurückgelassen hat. Mit einem Schritt war er bei mir, griff nach meinem Arm und stützte mich.
    »Es tut mir

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