Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
ihre ordnende Hand walten ließ. Andererseits konnte ich mich nicht erinnern, daß – auch als König Listenreichs Gemahlin noch lebte – Bocksburg je so reinlich oder so hell gewesen wäre.
Der Wächter vor der Tür zur des Königs Gemächern war ein strengblickender Veteran, den ich schon seit meiner Kindheit kannte. Auch er musterte mich erst aus schmalen Augen, bevor er sich ein kurzes Lächeln gestattete und fragte: »Etwas Wichtiges zu berichten, Fitz?«
»Nur, daß ich wieder hier bin«, antwortete ich, und er nickte ernsthaft. Seit Jahren war er auf seinem Posten Zeuge meines Kommens und Gehens gewesen, doch lag es ihm nicht, Vermutungen anzustellen oder Schlüsse zu ziehen oder auch nur mit Leuten zu sprechen, die nichts lieber getan hätten. Deshalb trat er leise in das Gemach des Königs, um drinnen zu melden, der Fitz sei gekommen. Wenig später wußte ich, daß Seine Majestät mich rufen lassen werde, sobald seine Zeit es erlaubte, aber auch, daß er froh sei, mich wohlbehalten wieder unter seinem Dach zu wissen. König Listenreich pflegte nicht unnötig schöne Worte zu machen.
Weiter unten auf demselben Gang lagen Veritas’ Gemächer. Auch dort wurde ich erkannt, doch als ich den Türhüter bat, seinen Herrn wissen zu lassen, ich wäre zurück und wollte ihm Bericht erstatten, antwortete er nur, Prinz Veritas sei nicht in seinen Gemächern.
»Dann in seinem Turm?« fragte ich, obwohl – wonach sollte er zu dieser Jahreszeit Ausschau halten? Wenigstens während der kurzen Wintermonate hielten Stürme die Korsaren von unseren Küsten fern.
Ein vielsagendes Lächeln zog über das Gesicht des Mannes. Als er meine ratlose Miene gewahrte, verbreiterte es sich zu einem Grinsen. »Prinz Veritas hält sich zur Zeit nicht in seinen Gemächern auf«, wiederholte er und fügte hinzu: »Ich sorge dafür, daß er deine Nachricht erhält, sobald er morgen früh erwacht.«
Wie ein Ölgötze stand ich da, bis ich endlich begriff und mich ohne ein weiteres Wort entfernte. Auch das gehörte also dazu, eine Königin in Bocksburg zu haben.
Zwei Treppen höher ging ich den Flur hinunter zu meinem eigenen Zimmer. Es war klamm und staubig und muffig, kein Feuer brannte im Kamin. Nirgends eine Spur einer weiblichen Hand. Der Raum wirkte so kahl und nüchtern wie eine Zelle. Doch immer noch besser als ein Zelt im Schnee, und das Federbett war so weich und üppig wie in meiner Erinnerung. Auf dem Weg durch das Zimmer entledigte ich mich Stück für Stück meiner schmutzigen Reisekleidung. Dann ließ ich mich in die Kissen fallen und schlief ein.
KAPITEL 3
ALTE BANDE NEU GEKNÜPFT
Der älteste Hinweis auf die Uralten in der Bibliothek von Bocksburg findet sich in einer brüchigen Schriftrolle. Vage Verfärbungen auf dem Pergament lassen darauf schließen, daß die Haut von einem gefleckten Tier stammte, doch keiner unserer Jäger heute vermag anhand der Zeichnung zu sagen, von welchem. Die Schreibflüssigkeit wurde aus Krakentinte und Glockenwurz hergestellt. Sie hat die Jahrhunderte gut überstanden, erheblich besser als die für Illustration und Illumination des Textes verwendeten farbigen Tinten. Diese sind nicht nur verblaßt und verlaufen, sondern scheinen überdies eine Art Milbe angelockt zu haben, so daß die brüchig gewordene Rolle nur mit größter Vorsicht zu öffnen ist.
Unglücklicherweise konzentrieren sich die Beschädigungen auf den inneren Teil des Dokuments, der die Teile der Queste von König Weise beschreibt, die nirgends sonst aufgezeichnet sind. Aus den Bruchstücken läßt sich herauslesen, daß große Not ihn veranlaßte, auf die Suche nach dem Reich der Uralten zu gehen. Seine Bedrängnis ist uns vertraut – Piraten verheerten gnadenlos seine Küsten. Manches deutet darauf hin, daß sein Weg in Richtung der Berge führte, doch wissen wir nicht, was ihn veranlaßte zu glauben, das Heim der mythischen Uralten müsse dort zu finden sein. Leider waren offenbar die letzten Etappen seiner Reise und seine Begegnung mit den übernatürlichen Wesen besonders reich illustriert, der Milbenfraß hat uns nur ein weitmaschiges Netz aus frustrierenden Wortresten und unvollständigen Figuren hinterlassen. Wir wissen weder etwas über das Zustandekommen dieser ersten Begegnung, noch haben wir die mindeste Ahnung, wie es ihm gelang, die Uralten als Verbündete zu gewinnen. Viele Lieder, reich an Metaphern, berichten, wie die Uralten herniederstiegen, wie ›Sturmwinde‹, wie ›Flutwellen‹, wie
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