Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
zur Seite. »Mir wäre lieber, du würdest mit der Hand in der Hose neben mir reiten, als ständig das in meiner Gegenwart zu tun. Ich empfinde es als Zumutung.«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Das lange Zusammenleben mit ihm hatte mich gelehrt, daß er bezüglich der alten Macht keinen Argumenten zugänglich war. Daß er von meinem Bund mit Nachtauge wußte und trotzdem meine Gegenwart duldete, war das Äußerste, was ich von ihm als Zugeständnis erwarten konnte. Dafür erwartete er von mir, daß ich die Dinge nicht auf die Spitze trieb und ihn ständig an meine Gemeinschaft mit dem Wolf erinnerte. Ich neigte zustimmend den Kopf. Zum erstenmal seit langem gehörten in dieser Nacht meine Träume nur mir.
Ich träumte von Molly. Sie trug wieder ihren roten Rock und saß am Strand, schälte mit dem Gürtelmesser Muscheln von den Steinen und aß sie roh. Sie schaute mir entgegen und lächelte. Ich ging auf sie zu. Sie sprang auf und lief barfuß am Strand entlang vor mir her. Ich folgte ihr, aber sie war so leichtfüßig wie nur je. Ihr Haar flog, und sie lachte nur, als ich ihr zurief, sie solle warten. Ich erwachte mit einem seltsamen Gefühl der Freude darüber, daß es ihr gelungen war, mir zu entkommen, und meine Gedanken waren erfüllt von dem Duft nach Lavendel.
Wir rechneten damit, in Bocksburg angemessen empfangen zu werden. Bei günstigem Wind sollten die Schiffe vor uns eingetroffen sein und die Nachricht von unserem Sieg verbreitet haben, deshalb waren wir nicht überrascht, als wir eine Abordnung von Edels Leibgarde uns auf der Straße entgegenkommen sahen. Eigenartig mutete an, daß sie, nachdem sie uns gesichtet hatten, ihre Pferde weiter Schritt gehen ließen. Keine Jubelrufe, keine zu einem Gruß erhobene Hand. Stumm und feierlich wie ein Zug von Geistern kamen sie auf uns zu. Ich glaube, Burrich und ich entdeckten gleichzeitig den Baton, den der Mann an der Spitze trug, den kleinen polierten Stab, der den Träger als den Überbringer einer wichtigen Nachricht ausweist.
Burrich wandte sich zu mir, sein Gesicht war ernst. »König Listenreich ist tot?« sprach er die naheliegende Vermutung aus.
Ich empfand keine Überraschung, nur das Gefühl einer dumpfen Leere. Ein verängstigter Junge in mir duckte sich, weil nun nichts und niemand mehr zwischen ihm und Edel stand; ein anderer Teil von mir fragte sich, wie es gewesen wäre, ihn ›Großvater‹ zu nennen, statt ›Majestät‹. Aber das waren nur Bagatellen, verglichen mit dem, was dieser Tod für mich als den Vasallen des Königs bedeutete. Er hatte mich geformt, mich zu dem gemacht, der ich war, gut oder schlecht. Er hatte eines Tages mein Leben in die Hand genommen, das Leben eines kleinen Jungen, der unter dem Tisch in der großen Halle mit den Hunden spielte, und ihm seinen Stempel aufgedrückt. Er bestimmte, daß ich lesen und schreiben können sollte, ein Schwert führen und Gifte mischen. Jetzt war er tot, und mir wurde bewußt, daß ich von nun an selbst die Verantwortung für mein Handeln übernehmen mußte. Ein beunruhigender Gedanke.
Mittlerweile hatten alle bemerkt, was der Anführer des Reitertrupps in der Hand trug. Wir machten Halt. Wie ein sich teilender Vorhang wich Kettrickens Garde auseinander, um ihn hindurchzulassen. Eine lastende Stille hing über uns, als er ihr den Stab überreichte und dann die kleine Schriftrolle. Das rote Siegelwachs sprang von ihrem Fingernagel. Ich sah zu, wie es auf die morastige Straße fiel. Langsam entrollte sie das Pergament und las, und über dem Lesen schien etwas in ihr zu erlöschen. Ihre Finger öffneten sich kraftlos, sie ließ die Schriftrolle hinter dem Siegel her zu Boden fallen – abgetan, ein Ding, das sie niemals wieder sehen wollte. Ihr schwanden nicht die Sinne, sie stieß keinen Schrei aus. Ihre Augen hatten einen fernen Blick, und sie legte wie schützend die Hand auf ihren Leib. Da wußte ich, nicht Listenreich war tot, sondern Veritas.
Ich spürte nach ihm. Irgendwo, winzig klein in mir zusammengerollt, ein Funke seines Bewußtseins, der hauchfeine Faden einer Verbindung… Nein. Wann hatte ich ihn verloren? Wenn ich kämpfte, geschah es leicht, daß das Band zwischen uns zerriß. Mir fiel etwas ein, das ich im Getümmel der Schlacht von Guthaven für eine Art Wahnvorstellung gehalten hatte. Ich hatte geglaubt, Veritas’ Stimme zu hören, wie sie Befehle brüllte, die für mich keinen Sinn ergaben. Die Worte hatte ich nicht verstanden, aber mir wollte scheinen,
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