Die Legenden der Albae: Dunkle Pfade (German Edition)
worden.
Wollte man einen Durchbruch versuchen oder den Turm verlängern? Sisaroth erhob sich und umrundete das Bauwerk, zu dem es keinen Zugang über das Wasserbassin gab. Ihm kam der unschöne Gedanke, es mit einem größenwahnsinnigen Grabmal zu tun zu haben. Tote spendeten keinen Beistand.
Hatte ich die Stimme eines Geists vernommen, der mich narren wollte? »Holla!«, rief er. »Ich bin ein Kind der Inàste und vernahm die Einladung. Die Runen leiteten mich hierher. Da bin ich nun!«
Nichts.
Er hatte nicht ernsthaft angenommen, eine Antwort zu erhalten. Aber es hätte sein können.
Unruhe erfasste ihn. Er wollte das Rätsel lösen und unbedingt einen Blick in das Bauwerk werfen. Die Hoffnung, dass Vorräte, Waffen, Kleidung und andere brauchbare Gegenstände im Turm lagerten, schürte seinen Ehrgeiz zusätzlich. In Phondrasôn herrschten die Gesetze des Stärkeren, des Schnelleren, des Besseren. Gute Ausrüstung würde die Waage zu seinen Gunsten verschieben.
Sein Magen knurrte laut.
Verflucht noch eins! Wie lautet der Trick? Sisaroth blieb stehen und betrachtete die Säulen, in denen die Symbole nach wie vor glommen. Die magische Kraft, die von ihnen ausging, spürte er als Kribbeln auf seinen Zügen. Zwei der Runen waren beschädigt. Die Einwirkung von Hammerschlägen und einer Axtklinge hatte der Säule sowie dem Zeichen darin zugesetzt. Absichtliche Zerstörung?
Ein letzter Versuch, dann ziehe ich weiter. Er wandte sich erneut zum fensterlosen Bauwerk. »Hey, ihr da drin! Falls mich jemand hört: Ich bin verletzt und brauche Hilfe«, rief er in einer Mischung aus Enttäuschung und Wut. Sisaroth bückte sich und hob einen kleinen Stein auf, schleuderte ihn gegen die Turmwand. »Hey! Bei Inàste und den Infamen, ich …«
Kaum schlug der kleine Brocken gegen die Mauer, blitzten die magischen Zeichen in den Quadern auf und veränderten ihre Farbe zu bedrohlichem Rot. Die Stützstreben wurden von weißlichen Blitzen umspielt. Ein vielfaches Summen ging von den Energien aus, die ihre Kraft von der Höhlenwand in den Turm zu leiten schienen.
Ein rubinfarbener Lichtstrahl drang aus dem Zeichen eines der unteren Steinquader und erfasste den Alb, vor dessen Augen sich die Umgebung auflöste.
Was wird das? Geblendet schloss er die Lider und wollte sich zurückziehen.
Als er sie wieder hob, schwebte er für zwei, drei Herzschläge in einer Zelle und fiel im nächsten Moment in einen Berg alter Knochen, die unter seinem Gewicht zerbrachen oder ganz zu Staub zerfielen. Beinwunde und entzündete Schulter sandten Qualen, er schrie auf und atmete die dreckige Luft ein, die ihn zum Husten brachte.
»Wie ungestüm«, vernahm er die tadelnde Stimme einer Albin, die einen altertümlichen Dialekt nutzte. »Du konntest es nicht erwarten.«
Wo bin ich? Sisaroth versuchte, die Gitterstäbe zu fassen, um sich daran hochzuziehen. Wasser löschte den Durst, gab allerdings keine Kraft, aber er wollte vor der Unbekannten seine Schwäche verbergen. »Mein Name ist Sisaroth«, stellte er sich vor und starrte durch den Staub, um die Albin zu erkennen.
Sie stand am Fuß einer Treppe, einen langen hellbraunen Mantel um sich geschlungen. Die Haare lagen gelockt und lang bis zum Halsansatz, das Blond leuchtete im Schein der Lampe, die sie an ihrem Stab befestigt hatte. »Woher kommst du?«
»Aus Dsôn Sòmran. Ich suche meine Geschwister.«
»Du bist der Erste, den ich seit …« Sie überlegte. »Man verliert an diesem verfluchten Ort das Zeitempfinden. Jedenfalls ist es lange her, dass ich einen Besucher begrüßen durfte. Einen Besucher, der nicht nach meinem Fleisch trachtet.« Die Albin zeigte auf die geborstenen Knochen um ihn herum. »Entschuldige den Empfang. Ich lasse dich gleich in die Freiheit. Die Zelle dient meinem Schutz. Der Turm überraschte mich in der Vergangenheit mit mancher Bestie im Keller, die mich gerne verspeist hätte.« Lächelnd kam sie näher und vollführte eine knappe Geste. »Ich bin Marandëi. Willkommen in meinem ungewollten Reich.«
Das Schloss an Sisaroths Zelle entriegelte sich wie von Geisterhand mit einem leisen Klicken.
Sie ist eine … Cîanai! Er humpelte hinaus und deutete eine Verbeugung an. »Danke, dass du mich zu dir führtest.« Er schätzte sie wesentlich älter als seine Mutter. Die Haut an Hals und Fingern wies Falten auf, die sich um Mund und Augen besonders deutlich zeigten. Unter ihrem Mantel sah er den Saum eines dunkelbraunen Gewands mit Stickereien.
Cîanai kannte
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