Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
dass die Brüche nicht das Problem waren«, erklärte Erienne betroffen. »Was weiß man sonst noch?«
»Nichts«, übersetzte Ren. »Er ist nicht wieder zu sich gekommen.«
»Und was ist mit den anderen, die erkrankt sind?« Erienne stand, unterstützt von Denser, wieder auf.
Jetzt gab es eine längere Pause, während Ren sich mit einem Stirnrunzeln, das ihr schönes Gesicht entstellte, anhörte, was ihr berichtet wurde. Sie stellte einige ergänzende Fragen, dann holte sie tief Luft und wandte sich an Erienne.
»Es ist schrecklich«, berichtete sie. »Gleichgewichtsstörungen, Blutungen aus Ohren, Nase und After, entsetzliche Schmerzen im Bauch und in der Brust, Verlust des Gesichtssinnes und des Gehörs, Muskelschwäche und Krämpfe in Händen und Füßen. Es könnte noch mehr Symptome geben, aber dies sind die häufigsten. Das Schlimmste ist, dass anscheinend niemand weiß, wie man die Symptome bekämpfen oder lindern kann. Der Tod tritt bereits nach vier Tagen ein. Bisher hat niemand überlebt.«
»Das überrascht mich nicht«, sagte Erienne. »Wie viele sind im Augenblick erkrankt?«
»Einhundertdreiunddreißig.«
»Oh, nein«, sagte Erienne. Sie legte eine Hand auf den Mund. Die Größenordnung des Problems ließ sie schwindeln. »Kein Wunder, dass sie so feindselig war.«
Erienne ging zu Kild’aar und legte beide Hände auf ihre verschränkten Arme. Sie erkannte ein Flehen hinter der abweisenden Maske der Elfenfrau, eine kaum unterdrückte Furcht, die vor allem darauf beruhte, dass es keine Antworten gab.
»Es tut mir Leid, Kild’aar«, sagte Erienne. »Aber Ihr müsst mir einen von denen zeigen, die noch leben.«
Kild’aar nickte. Die Worte hatte sie nicht verstanden,
doch der Ausdruck und die Bewegung in Eriennes Stimme waren deutlich genug. Ren übersetzte, und Erienne musste eine Rückfrage beantworten.
»Sie will wissen, was du herausgefunden hast.«
Erienne nagte an der Unterlippe. »Er ist innerlich verwest«, sagte sie so ruhig wie möglich. Der starke Eindruck von Verfall und Krankheit hatte sie mitgenommen. »Alle seine inneren Organe haben sich aufgelöst, einige sind kaum noch zu erkennen. So auch sein Gehirn. Seine Knochen waren spröde, er hatte kein Calcium, als wäre er schlagartig um Jahrhunderte gealtert. Äußerlich war er unversehrt, aber im Innern war es, als sei er schon vor Wochen gestorben. Ich muss aber einen lebenden Patienten sehen. Jemanden, mit dem ich reden kann. Rasch.«
Ren war einen Moment lang wie vor den Kopf geschlagen, als sie Eriennes Beschreibung hörte. Sie riss sich zusammen und berichtete Kild’aar schaudernd von den schrecklichen Symptomen. Die ältere Frau nahm keuchend auf, was sie über Mercuuns Ende erfuhr. Sie warf Erienne einen Blick zu, und der Zorn war Schock und Trauer gewichen. Sie sagte einige Worte.
»Kild’aar fragt, ob du etwas tun kannst.«
Erienne zuckte hilflos mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich hoffe es, aber ich weiß es nicht. So etwas habe ich noch nie gesehen.«
Kild’aar musste nicht erst die Übersetzung hören. Sie winkte ihnen, den Raum zu verlassen, und hielt inne, als die Tür gegenüber geöffnet wurde. Ein halb nackter Elf lehnte sich kraftlos an den Türrahmen, torkelte heraus und kam ihnen durch den schmalen Gang entgegen. Seine rechte Hand war an der linken Schulter fixiert, er hatte tiefe Falten auf der Stirn, und seine Haut war von einem
Schweißfilm bedeckt. Seine Augen brannten, als er Erienne und Denser sah. Ren warf er nur einen kurzen Blick zu, dann konzentrierte er sich auf Kild’aar und ließ offenbar eine Flut von Verwünschungen auf sie los.
Erienne wich unwillkürlich zurück, bis sie Denser hinter sich spürte. Sie sah, wie Kild’aar den Arm ausstreckte und den verwundeten Elf berührte, der ihre Hand jedoch wegschlug. Sie reagierte mit beruhigenden Worten auf seinen Ausbruch, doch das brachte ihn nur noch mehr in Rage. Er schrie, blickte zum anderen Zimmer, und die Sehnen an seinem Hals traten vor Wut hervor. Eriennes Herz schlug schneller, der heftige Ausbruch war schockierend. Sie tastete nach Densers Hand.
Der Elf hörte nicht auf. Was Kild’aar auch sagte, es besänftigte ihn nicht. Ren verfolgte den Streit. Immer wieder wollte sie etwas sagen, doch irgendetwas, das sie hörte, brachte sie zum Schweigen. Es wurde immer lauter im beengten Raum, auch Kild’aar schrie jetzt. Schließlich beendete Ren den Streit. Die junge Elfin ballte die Hände zu Fäusten, trat entschlossen
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