Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
verschone ihn«, betete Rebraal flüsternd zur Göttin der Waldbewohner. Er suchte in Mercuuns Ledersack nach dem Metallbecher und dem kleinen Medizinbeutel.
Er eilte zum Flussufer, schöpfte etwas Wasser, sammelte auf dem Rückweg kleine Zweige und machte ein winziges Feuer aus feuchtem Holz, das er mit Mercuuns Zunder in Gang brachte. Er erhitzte das Wasser über der spuckenden Flamme und schützte seine Hände mit einem Tuch vor dem heißen Metall.
Als das Wasser kochte und dampfte, gab er einige Blätter in den Becher. Der kräftige, frische Geruch stieg ihm in die Nase.
»Es ist fast bereit, Meru«, sagte er, obwohl sein Freund es nicht hören konnte. Doch er bewegte sich und würde wohl gleich wieder zu sich kommen. Er stöhnte leise.
Als der Aufguss fertig war, kippte Rebraal die trübe Flüssigkeit in einen Lederbeutel, gab einige Samen von der Casimirfrucht dazu und hielt den Bodensatz zurück. Während die Flüssigkeit abkühlte, schöpfte er den Bodensatz mit einem Palmblatt aus dem Lederbeutel, blies darauf, bis er ihn gerade eben berühren konnte, und verteilte ihn auf Mercuuns Brüchen, nachdem er, wo es nötig war, die Kleidung aufgeschnitten hatte. Den Rest schmierte er sich auf seine eigene Schulter.
Mercuun öffnete flatternd die Augen. »Ich sterbe, Rebraal.«
»Nein, du stirbst nicht. Lass mich deinen Kopf stützen, während du das hier trinkst.«
Er kniete nieder und legte Mercuuns Kopf auf seinen Schoß. Der schwer verletzte Elf schluckte bereitwillig den Aufguss. Er wusste, dass das starke Betäubungsmittel seine Schmerzen lindern würde.
»Was willst du jetzt machen?«, fragte er, als das Leder leer war.
»Dich nach Hause tragen, Meru. Du musst behandelt werden.«
»Aber deine Schulter.« Mercuun hob schwach einen Arm.
»Das wird schon. Vertrau mir.«
»Yniss möge dir beistehen, Rebraal.«
»Und dir auch, Meru. Wie fühlst du dich?«
»Die Schmerzen lassen nach.«
»Gut, dann lass uns aufbrechen.«
Rebraal packte Mercuuns Ledersack und schlang ihn sich über die rechte Schulter. Dann bückte er sich und hob
seinen Freund hoch. Er spürte, wie seine eigene Wunde aufplatzte und zu bluten begann, doch der Schlamm der Blätter dämpfte die Schmerzen zu einem dumpfen Pochen.
Mercuun hing wie tot in seinen Armen. Sein Kopf lag an Rebraals Brust.
»Es ist jetzt nicht mehr weit«, sagte Rebraal. »Ruh dich aus.«
Mercuun kicherte. »Lüge mich nicht an. Ich bin verletzt, aber ich bin noch bei Verstand. Du bist derjenige, der sich ausruhen müsste.«
Rebraal knirschte mit den Zähnen und machte sich auf den Weg. Es waren noch fast zehn Meilen bis zum Dorf, und sie mussten durch dichten Regenwald, steile Hügel hinauf und durch schlammige Senken an einem gefährlichen Fluss entlanglaufen. Rebraal sandte ein Gebet an Yniss und bat um Kraft, um zu überleben, und ließ den Fluss Ix hinter sich.
Dreizehntes Kapitel
Die Dämmerung wurde im Regenwald von einer Kakophonie begrüßt, wie es schon immer gewesen war und wie es immer sein würde. Aus niedrigen, dunkelgrauen Wolken fiel beharrlich der Regen, doch der Donner und die Blitze waren nach Norden in Richtung Küste gewandert.
Auum war nicht auf die Geräusche der Elemente und der Natur als Tarnung angewiesen, um sich lautlos zu bewegen. Seine Schritte waren nicht mehr als ein Flüstern auf dem Waldboden, und kaum ein Blatt bewegte sich, wenn er vorbeikam. In einem Abstand von fünf Schritten zu beiden Seiten begleiteten ihn seine Tai. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wo sie sich befanden. Es waren Duele und Evunn, die mit Auum zusammen eine Zelle der TaiGethen bildeten. Sie waren die Elitekrieger und Jäger der Al-Arynaar. Insgesamt gab es fünfzig Zellen, die über den ganzen Regenwald verteilt waren. Kein einziger Elf kannte sie alle, doch jeder Elf kannte ihre Aufgabe.
Wenn sie gerufen wurden, töteten sie Eindringlinge.
Auums Tai hatten ihr Ziel fast erreicht. Sie hatten keine Befehle bekommen, doch sie hatten die Neuigkeiten gehört, und wie jede Zelle durchkämmten auch sie ihr Revier im Wald und schalteten jede Bedrohung aus, die sie fanden.
Es war Auums erster Einsatz, doch auch wenn nun auf die Ausbildung der Ernstfall folgte, war er nicht nervös. Dies war die Aufgabe, für die man die TaiGethen ausbildete.
Sie hatten schon seit Stunden die Gerüche des feindlichen Lagers, dem sie sich näherten, in der Nase. Wie ein Gift verteilten sich die Gerüche mit dem Wind – brennendes Holz, gewachstes
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